Wenn sich eine Organisation das Thema Gesundheit nur vornimmt, um nach außen ein gutes Bild abzugeben, werden sie ihrer tatsächlichen Verantwortung nicht gerecht. Gesundheitsförderung am Arbeitsplatz sollte zunächst einmal nachhaltige Effekte nach innen haben, bevor eine Unternehmenswebsite damit wirbt. Alles andere ist Bluewashing.
In dieser Ausgabe unseres Magazins geht es um das Thema Gesundheit. Um Gesundheit am Arbeitsplatz, mentale Gesundheit und darum, die eigene Gesundheit ernst zu nehmen. Wie immer, wollen wir Führungskräften und Unternehmen Ideen und Impulse vermitteln, damit sie das Thema in ihren Arbeitsalltag integrieren können. Vor allem unsere drei Praxisbeispielezeigen: Gesundheit ist Führungssache und muss von dort priorisiert werden.
Viele Unternehmen haben erkannt, dass ihre Haltung zu Themen wie Diversity, Gesundheit oder Vereinbarkeit besonders bei der Gewinnung von neuen Mitarbeitenden eine Rolle spielt. Fachkräfte wählen kritisch aus, bei wem sie ihre Kompetenzen zum Einsatz bringen. Grund genug für die meisten Unternehmen, auf ihren Karriereseiten einen eindrücklichen Maßnahmenkatalog dazu zu veröffentlichen, um das Interesse von Bewerber:innen zu erhalten.
Wenn die Organisation nicht hält, was die Karriereseite verspricht
Was hierbei aber wichtig ist: diese Maßnahmen müssen echt sein. Sie müssen sich weiterentwickeln und an den tatsächlichen Bedürfnissen der Mitarbeitenden ausrichten. Ein Unternehmen, das sich auf die Fahnen bzw. Karriereseiten schreibt, Elternschaft zu fördern, aber nicht einmal Homeoffice anbietet, meint es wahrscheinlich nicht so ernst damit. Unternehmen, die nach langen Krankheiten der Mitarbeitenden gerade mal das gesetzlich verpflichtende Betriebliche Eingliederungsmanagement (BEM) anbieten, aber keine vorbeugenden Maßnahmen tätigen, gehen nicht die Extrameile, um ihre Mitarbeitenden gesund zu halten. Da kann der Obstkorb in der Mitarbeiterküche noch so groß sein.
Immer bekannter hierzu wird der Begriff Bluewashing, eine Art „moralisches Ablenkungsmanöver bezüglich des sozialen Engagements eines Unternehmens, um soziale Gerechtigkeit und Verantwortung vorzutäuschen” ( Verbraucherportal VIS Bayern).
Der Begriff hat seinen Ursprung in der Kritik des Global Compact der UN. Hier verpflichten sich die teilnehmenden Unternehmen freiwillig u.a. zur Einhaltung von Menschen- und Arbeitnehmerrechten. Da aber auch Konzerne teilnehmen, die in Sweatshops zu widrigen und schlechtbezahlten Bedingungen – teilweise sogar unter der Nutzung von Kinderarbeit – produzieren lassen, wird der Global Compact immer wieder kritisiert.
Klare Prioritäten von Arbeitnehmende bringen Firmen zunehmend unter Druck
Zum Glück haben wir in Deutschland Gesetze, denen sich Unternehmen nicht in so extremer Form widersetzen können. Bei uns werden Menschen- und Arbeitnehmerrechte geachtet und gelebt. Aber fassen wir den Begriff blue washing weiter und beziehen ihn auf die aktuellen Fokusthemen der Arbeitnehmenden, die oft nicht nachhaltig in der Unternehmenskultur verankert sind, finden wir sicher viele Blender.
Von diesen Blendern wird es hoffentlich immer weniger geben. Wenn ein Arbeitsmarkt aus Arbeitnehmenden mit Prioritäten besteht, übt das Druck auf Unternehmen aus. Wir wünschen uns diesen Arbeitsmarkt, der sich nicht länger von Bluewashing-Maßnahmen beeindrucken lässt. Und vor allem wünschen wir uns Unternehmen, die bereits verinnerlichen, dass gesunde motivierte Angestellte ein viel besseres Aushängeschild sind als aufpolierte Karriereseiten auf der Website.
Unsere Arbeitswelt ist schnell geworden. So schnell, dass der Geist von Arbeitnehmer:innen oft hilflos hinterherstolpert. Psychische Erkrankungen sind inzwischen die zweithäufigste Diagnosegruppe bei Krankschreibungen und Arbeitsunfähigkeit. Dass die mentale Gesunderhaltung von Mitarbeiter:innen eine wichtige Managementaufgabe ist, liegt auf der Hand. Gesetzlich vorgeschrieben ist sie ohnehin. Aber was können Unternehmen konkret tun? Und lassen sich Mitarbeiter:innen überhaupt auf die Auseinandersetzung mit ihrer psychischen Gesundheit ein? Ich habe in verschiedenen Organisationen nach Antworten gesucht – beim mittelständischen Webhoster Mittwaldwurde ich als erstes fündig.
Ich bin mit Rebecka Karsten, Personalerin und Recruiterin bei Mittwald, verabredet. Mittwald, das sind rund 180 Mitarbeiter:innen, die „in der Provinz den Traum vom Silicon Valley leben“. Ursprünglich als klassisches Unternehmen gestartet, setzt Mittwald inzwischen auf agile sinnstiftende Teamarbeit. Nachhaltigkeit ist ihr moralischer Antrieb – wer bei Mittwald hostet, tut dies nämlich klimaneutral.
Rebecka Karsten ist seit dreieinhalb Jahren gemeinsam mit zwei Kolleg:innen für das Thema Gesundheit bei Mittwald verantwortlich. „Mit Sportgruppen fing bei uns alles an, inzwischen sind sie nur noch ein kleiner Teil in einem großen Maßnahmenpaket“, berichtet sie mir. Sie hätten sich vor einigen Jahren aus der Belegschaft heraus gebildet. Alles Organisatorische übernehmen die Mitarbeiter:innen, die Personalabteilung kümmert sich um das Finanzielle und um die Kommunikation ins Unternehmen hinein. „Die bestehenden Angebote sind beispielsweise in unserer Onboarding-Broschüre für neue Mitarbeiter:innen aufgeführt. Außerdem hat jede Sportgruppe einen eigenen Slack-Channel.“
Gesundheit bedeute für Mittwald aber deutlich mehr als Sport, berichtet Rebecka Karsten weiter. Es ginge auch um das psychische Wohlbefinden. „Wie wichtig es ist, in diesem Bereich zu unterstützen, haben uns unsere jährlichen Gesundgespräche deutlich gemacht. Wir haben darin nachgefragt, welche Tipps und Anliegen die jeweilige Person in Sachen Gesundheit hat. Die Themengebiete Achtsamkeit und Mindfulness sowie Ernährung haben das Feedback in den letzten Jahren dominiert. Daraus haben wir für uns dann die Aufgabe abgeleitet, genau dazu etwas zu tun.“
Ende 2018 hatte die Personalabteilung damit begonnen, ein Mindfulness-Programm zu entwickeln. Schnell sei deutlich geworden, dass dieses Programm sehr facettenreich sein muss. „Es gab Kolleg:innen, die sehr offen und interessiert auf unser Vorhaben reagiert haben, andere wollten damit gar nichts zu tun haben. Wir haben dann geschaut, dass das Programm möglichst für jeden etwas bietet.“
Gesundheitsförderung im Unternehmen: Aktive Pausen und Ackerwirtschaft
Konkret wurden beispielsweise die gewöhnlichen Schokoriegel in den Snackstationen durch eine vegane, fair gehandelte, zuckerreduzierte Variante ersetzt und eine Salatbar dafür eingeführt. Sie wird von einem Cateringdienst täglich frisch bestückt. Wer sie in Anspruch nimmt, zahlt 3.50 Euro pro Person pro Mahlzeit. 50 Cent trägt der:die Mitarbeiter:in, 3 Euro übernimmt Mittwald. Ein anderes Angebot: die Aktivpause. Vor Corona gestaltete ein Physiotherapeut zweimal in der Woche für Interessierte eine bewegte Mittagspause mit unterschiedlichen Übungen. „Das hatte sich sehr gut etabliert. So gut, dass wir es auch jetzt, im pandemiebedingten Home Office, eigeninitativ weiterführen. Eine Kollegin lädt zum Beispiel regelmäßig zu Yoga-Pausen ein. Diese Pause gilt als Arbeitszeit.“
Überhaupt hätte das Thema „Soziale Interaktion im Lockdown“ einige Kolleg:innen so sehr bewegt, dass sich aus einer Arbeitsgruppe heraus Feierabendgruppen entwickelt haben:
– der Buch-Club „mittlesen“ mit 19 Teilnehmenden.
– wöchentliche remote stattfindende Kochabende: Jede Woche übernimmt ein:e Mittwälder:in die Leitung, legt ein Rezept fest, teilt die Einkaufsliste und moderiert durch den Abend. Im Anschluss wird gemeinsam gegessen.
– wöchentliche remote stattfindende Spieleabende: Favoriten sind derzeit Among us und Codenames
– eine App-basierte Laufgruppe, mit der sich Kolleg:innen gegenseitig für mehr Bewegung motivieren. Es gibt verschiedenen Community-Funktionen. Im Januar haben 18 Teilnehmer:innen gemeinsam 401 km zurückgelegt.
Die Gruppen organisieren sich über Slack und werden in einem Outlook-Kalender festgehalten.“Das Beispiel zeigt: Es muss nicht immer kompliziert und aufwendig sein. Auch kleine Maßnahmen können einen großen Einfluss haben.“
Bei anderen Plänen machte Corona Rebecka Karsten und ihrem Team allerdings einen dicken Strich durch die Rechnung. „Wir wollten unter anderem unser Fitnessprogramm mit einem professionellen Anbieter ausbauen. Das liegt derzeit natürlich auf Eis. Dafür hoffen wir, dass wir uns in diesem Jahr wie geplant dem Projekt Ackerhelden anschließen können, bei dem Mitarbeiter:innen ein eigenes Gemüsebeet auf dem Firmengelände bewirtschaften können.
Gesundheitsförderung im Unternehmen: Workshop Ressourcenmanagement
Das größte Vorhaben, das Rebecka Karsten trotz Pandemie bald in die Umsetzung bringen möchte: den Workshop „Psychisches Gesundheits- & Ressourcenmanagement“. Er war für März 2020 geplant, 60 der 180 Kolleg:innen hatten sich angemeldet. Nun wird über eine remote stattfindende Variante nachgedacht. „Bei solch einem sensiblen Thema ist der digitale Übertragungsweg allerdings kein idealer.“ Ob am Ende online oder oder offline – auf Grundlage eines bekannten Fragebogens, der arbeitsbezogene Verhaltens- und Erlebensmuster sichtbar machen kann, soll der Workshop allen Teilnehmer:innen ermöglichen, ihre Verhaltensmuster und darin liegende Risiken klarer zu erkennen.
„Gesundheit bedeutet für uns auch psychisches Wohlbefinden“
Rebecka Karsten
„Wie gehe ich mit Misserfolgen um? Wieviel Leidenschaft habe ich gegenüber dem, was ich tue? Wie sehr bin ich bereit, mich zu verausgaben? Kann ich mich gut distanzieren? Es ist wichtig, die Antworten auf diese und andere Fragen zu kennen. Denn dann weiß ich, wo Gefahren für mein Wohlergehen lauern“, so die Mittwald-Personalerin. „Wenn jemand beispielsweise bereit ist, viel und leidenschaftlich zu arbeiten, aber sich schlecht distanzieren kann und eine verminderte Widerstandsfähigkeit aufweist, ist das ein Knackpunkt. Wenn man das aber weiß, kann man etwas für die eigene Distanzierungsfähigkeit tun.“
Gesundheitsförderung im Unternehmen: Pandemie-Erfahrungen verarbeiten
Aktuell ist das HR-Team allerdings am meisten damit beschäftigt, die mit dem Home Office einhergehenden Herausforderungen zu begleiten und aus den in der Pandemie gemachten Erfahrungen zu lernen. Sie bilden sich selbst fort, unter anderem, um eine gute Remote-Feedbackkultur zu etablieren. Und sie sind mit dem Ohr wieder eng am Mitarbeitenden, fragen systematisch die Erfahrungen und Wünsche der Belegschaft ab.
“Manche berichteten uns, dass sie gar nicht mehr abschalten können im Home Office, manche haben nachts gearbeitet, einige haben drastisch Überstunden angehäuft, andere konnten nicht mehr ungestört arbeiten, weil Kinder zuhause betreut werden mussten“, zählt Rebecka Karsten auf. „Wir müssen also schnell lernen, wie wir mit der Entgrenzung und neuen Flexibilität umgehen können. Gerade wenn wir mobiles Arbeiten auch über die Pandemie hinaus anbieten wollen, müssen wir systematisch Kompetenzen ausbauen. Wir haben bereits eine Veränderung auf der strukturellen Ebene, was wir nun benötigen ist eine innere Weiterentwicklung.“
Gespräche mit Mitarbeiter:innen sind eine hervorragende Gelegenheit, um über das Thema mentale Gesundheit zu sprechen. Konkret: über unerfüllte Bedürfnisse, die zu Frust oder gar psychischer Belastung führen. Führungskräfte können erfahren, was ein Teammitglied braucht, um im besten Fall anschließend gemeinsam Maßnahmen zu erarbeiten. Soweit die Theorie. In der Praxis ist es für Mitarbeiter:innen gar nicht immer so leicht, ihre konkreten Bedürfnisse zu erkennen. Die richtigen Fragen können Führungskräfte dabei unterstützen, herauszufinden, was genau ihr Gegenüber braucht.
Eine mögliche Antwort gibt mir Agatha Bieschke. Sie arbeitet als Area Director bei der Regus Group, einem der größten Anbieter für flexible Bürolösungen mit 3.500 Standorten weltweit. Davon betreut sie rund 40 in Norddeutschland mit insgesamt ca. 200 Mitarbeitern.
Agatha Bieschke ist nicht nur Führungskraft, sondern auch Coach und Gesellschafterin mehrerer Unternehmen. 2020 gründete sie den Made for More Club, ein Coaching-Programm für Frauen. Basierend auf ihren beruflichen Erfahrungen entwickelte sie eine Checkliste, um im Gespräch mit Mitarbeiter:innen und Führungskräften deren konkrete Bedürfnisse zu erkennen und individuelle Lösungen zu schaffen.
Frau Bieschke, wie sind Sie dazu gekommen mit einer solchen Checkliste zu arbeiten?
Die Checkliste ist von der menschlichen Bedürfnispyramide nach Maslow abgeleitet und von mir an die Anforderungen von Karriere und Beruf angepasst. In meiner Zeit als Polizeikommissarin habe ich kriminelle Jugendliche gecoacht und festgestellt, dass Menschen zu negativen Gefühlen neigen, wenn ihre Bedürfnisse nicht erfüllt werden. Selbst wenn Menschen objektiv gesehen einen Traumjob mit ausreichend Geld und Aufstiegschancen haben, kann es sein, dass sie trotzdem unglücklich sind. Ich wollte unbedingt wissen, warum sie unzufrieden sind und warum sie dies vielleicht auch gar nicht richtig benennen können. Denn wenn klar ist, warum jemand wirklich unzufrieden ist, dann können im besten Fall konkrete Lösungen gefunden werden.
Wie kann ich mir ein Gespräch, basierend auf Ihrer Checkliste, vorstellen?
Man geht von der Basis der Bedürfnispyramide (Sicherheit) bis hoch zur Spitze (Selbstverwirklichung) die einzelnen Punkte durch. Der:die Mitarbeiter:in bewertet die einzelnen Bereiche mit Werten zwischen 1 (dieses Bedürfnis erfüllt mein Job gar nicht) und 10 (dieses Bedürfnis erfüllt mein Job voll und ganz). Anschließend überlegen Führungskraft und Mitarbeiter:in, welche Punktzahl sie gerne erreichen würden. Wichtig ist hier, dass jeder anders interpretiert, was er:sie braucht. Es gibt Menschen, die brauchen zum Beispiel sehr viel Sicherheit, und es gibt Menschen, die brauchen mehr Aufregung und Abwechslung. Die meisten wissen allerdings nicht, welches das Level ist, dass sie jeweils brauchen. Wenn ich detaillierte Fragen stelle – Was brauchst du, um glücklich zu sein und wie ist es gerade für dich? – kommen wir aber meist an die Punkte, wo es hakt. Dann können wir viel besser Maßnahmen herleiten. Und das sind immer unterschiedliche, weil die Unzufriedenheit immer an individuellen Punkten liegt. So kann man viel genauer Probleme lösen.
Beim Durchgehen der Punkte fällt mir auf, es hapert für mich besonders im Bereich der Abwechslung. Mein Job ist für mich nur eine 5/10, weil viele administrative Aufgaben immer gleich bleiben, aber ich hätte gerne eine 8/10, weil ich mehr machen und lernen will. Was kann ich jetzt tun?
Überleg dir, was genau du mehr machen willst und was genau du mehr lernen willst. Das ist der Knotenpunkt im Gespräch mit der Führungskraft, an welchem man das Problem herausgefiltert hat und nun gemeinsam konstruktiv erarbeiten kann, was konkret unter „ich will mehr machen, mehr lernen“ fällt, um gemeinsam Maßnahmen festzulegen. Zum Beispiel, dass man mehr Verantwortung in einem Bereich übernimmt und dazu alle 6 Monate einen Workshop besucht. Diese Selbstreflexion im Gespräch ermöglicht, dass sich das Teammitglied vor Augen führt, was es genau will, und zeigt der Führungskraft für welche Probleme gemeinsam konkrete Lösungen und Maßnahmen festzulegen sind.
Wie und mit welcher Regelmäßigkeit gehen Sie solche Gespräche mit Ihren Mitarbeiter:innen an?
Jeder kennt mich ja so ein bisschen als Coach, das heißt, sie sind da meistens alle sehr offen. Wir beschränken das auf die Lebensbereiche Beruf, Karriere und Finanzen, weil ich natürlich jedem auch den Raum geben möchte, privat zu bleiben. Dennoch ist es so, dass ich versuche, in laufenden Gesprächen die Zufriedenheit oder Unzufriedenheit herauszufinden. Aber ich habe auch regelmäßig Coaching-Gespräche mit Führungskräften, in denen ich mit der Checkliste arbeite.
Wir sind unterteilt in den Sales-Part, also die Mitarbeiter:innen, die sich direkt mit den Kund:innen treffen, und dann in den Operations-Part mit den Mitarbeiter:innen, die die Standorte betreiben. Ich spreche mit den Sales-Führungskräften fast jeden Tag und mit den Operations-Führungskräften alle 14 Tage. Und wenn ich aus diesen Gesprächen durch Körpersprache oder durch Äußerungen einen Anlass erkenne, dass hier mal eine Stunde gut wäre, werden Coaching-Termine vereinbart.
Haben Sie Beispiele für ein Gespräch und Maßnahmen, die aus diesem Gespräch gezogen wurden?
Zum Beispiel habe ich eine Führungskraft, die als Fachkraft sehr gut ist. Wir sind die Checkliste durchgegangen und bei ihm kam heraus, dass er mit seinem Wachstum unzufrieden ist. Ihm geht das eigene Entwickeln und Wachsen nicht schnell genug. Dabei ist er schon unter den Top drei Verkäufer:innen und kann da ohnehin nicht besser werden. Wir haben uns gefragt, was bräuchte er denn jetzt, um dieses Wachstum zu erzielen, also wo will er hinwachsen. Was ist das Ziel? Ausgehend von dem Ziel haben wir überlegt, welchen Skill er bräuchte, um dieses Ziel zu erreichen. Dort haben wir den Skill „Führung“ herauskristallisiert. Er beschäftigt sich nun erstmal mit Literatur zum Thema „Führung“.
Wenn ich jetzt als Fachkraft, gerade auch als junge Fachkraft, die Punkte Ihrer Checkliste durchgehe und merke, dass es mir an einem Punkt fehlt, wie sollte ich da am besten vorgehen?
Als Fachkraft würde ich immer versuchen, lösungsorientiert an ein Gespräch zu gehen und niemals problemorientiert. Ich versuche immer darauf hinzucoachen, dass die Fachkräfte wissen: Komm nicht mit einem Problem zu mir, sondern komm schon mit einer Lösung zu mir, auf der wir aufbauen können.
Wie vermitteln Sie dies Ihrem Team?
Im Tun. Wenn ich in ein neues Unternehmen komme, dann übernehme ich oft Strukturen, die jemand anders geprägt hat. Das erste, was ich versuche, ist, wenn jemand zu mir sagt, „Ich habe ein Problem.“, dass ich die Person frage, was sie denn für ein Problem hat, anstatt einen Vorschlag zu machen, wie sie das löst.
Und alleine dadurch, dass ich frage, „Und jetzt? Hattest du schon eine Idee, wie man das lösen kann? Hast du eine Idee, wo du rausfinden kannst, wie du es lösen kannst?“, ist die Person gezwungen zu recherchieren und eine Lösung zu finden. Dann kommt sie mit der Lösung zu mir und auf der Lösung bauen wir dann auf. Das dauert zu Beginn etwas länger. Also der Prozess, dass jemand gezwungen wird, selbst eine Lösung zu finden. Später ist man da trainiert und überlegt, wie man das Problem lösen könnte. So integriert man eine lösungsorientierte Kultur und fördert selbstständiges Denken.
Die Checkliste eignet sich auch zur Selbstreflexion! Wendet sie doch am besten gleich mal auf Euch an…
Sicherheit: Ist mein Job sicher? Muss ich mir Sorgen um meine Zukunft machen? Verdiene ich genug Geld, um vernünftig leben zu können?
Abwechslung: Ist mein Job trotz gegebener Sicherheit abwechslungsreich und spannend, sodass ich dabei bleiben will?
Bedeutung: Welchen Sinn sehe ich in meinem Job? Sehe ich in dem, was ich mache oder dem Produkt, was ich vertreibe, eine Bedeutung?
Beziehungen: Fühlst du dich in dem Team in dem du arbeitest wohl?
Wachstum: Kann ich noch persönlich wachsen? Lerne ich? Wächst das Unternehmen?
Selbstverwirklichung: Hast du das Gefühl, etwas verändern/ einen Beitrag leisten zu können?
Wenn ein Kind (chronisch) krank ist oder eine Behinderung hat und Pflege braucht, ist der Berufs- und Familienalltag berufstätiger Eltern stark beansprucht. Die Belastungen, die sich aus chronischen Krankheiten und Beeinträchtigungen ergeben, sind erheblich. Gleichzeitig können sie mit günstigen Rahmenbedingungen durch Arbeitgeber und Politik aufgefangen werden. Wie, das beschreibt Stephanie Poggemöller, Mutter zweier Kinder, von denen eines pflegebedürftig ist, in diesem Gastbeitrag.
Der Bedarf an Vereinbarkeitsmaßnahmen, die den oben genannten gesundheitlichen Aspekten Rechnung tragen ist da. Nach Angaben des Berufsverbands für Kinder- und Jugendärzte hat jedes sechste Kind und jeder vierte Jugendliche eine chronische Grunderkrankung (z.B. Asthma, chronische Darmentzündungen, Rheuma, Epilepsien und Krebs).
Darüber hinaus sind derzeit 130.000 Kinder schwerbehindert und ca. 75.000 Kinder unter 15 Jahren pflegebedürftig, zu letzteren zählt auch mein Kind. Die Kinder und Jugendlichen werden zum Großteil zu Hause betreut, versorgt und gepflegt und das vorwiegend von Müttern. (99,5% lt. Pflegereport 2017)
Für viele berufstätige Eltern, die Kinder mit chronischen Erkrankungen oder Pflegebedarf haben, ist es wichtig, weiterhin im Beruf zu sein. Finanzielle Aspekte spielen dabei eine ebenso große Rolle wie sozialer Austausch und der Erhalt beruflicher Kompetenzen. Auch Selbstverwirklichungsmöglichkeiten sowie die Möglichkeit im Berufsalltag Abstand von den familiären An- und Herausforderungen zu bekommen, sprechen für die Erwerbsarbeit. Denn Care-Arbeit für (chronisch) erkrankte oder beeinträchtigte Kinder ist eine Aufgabe, die viel Zeit und erheblich Kraft erfordert. Alles Gründe, sich als familienfreundliches Unternehmen die Frage zu stellen, wie die Mitarbeitenden in diesen Lebenslagen entlastet werden können.
Unternehmen haben Stellschrauben, um Mitarbeitende in besonderen Lebenslagen zu unterstützen
Die meist zeitintensive, körperlich und vor allem psychisch aufwendige Betreuung (chronisch) kranker oder beeinträchtigter Kinder kann mit den beruflichen Anforderungen in Einklang gebracht werden. Dies ist umsetzbar, wenn Arbeitgebende ihren Beschäftigten mit Verständnis, einer vorurteilsfreien familienfreundlichen Organisationskultur und entsprechenden Rahmenbedingungen zur Seite stehen. Welche Möglichkeiten gibt es nun konkret?
1. Führungskräfte sensibilisieren
Eine wichtige Voraussetzung für Eltern mit anspruchsvollen Lebenssituationen ist die Unterstützung durch Führungskräfte. Sie sind darin gefragt, Vorbild und Multiplikator zu sein sowie Barrieren abzubauen. In speziellen Weiterbildungen können Führungskräfte für diese Themen und den Umgang damit sensibilisiert werden. Denn Eltern in besonderen Lebenslagen sehen sich dauerhaft enormen Beanspruchungen im Alltag gegenüber.
Sie sind konfrontiert mit Einschränkungen in der Freizeitgestaltung oder Mobilität, mit Therapien, Anträgen, Behördengängen, Arztbesuchen sowie sozialen und mentalen Mehrbelastungen. Vorgesetzte sollten daher in speziellen Schulungen Anregungen bekommen, wie sie Arbeitsbedingungen schaffen können, unter denen auch Fürsorge möglich ist. Beispielsweise indem sie konstruktive Teamgespräche führen und eine Kultur der Offenheit und des Verständnisses schaffen, in der sich betroffene Mitarbeiter:innen nicht scheuen, über ihre Situation zu reden. Weiterhin sollten Führungskräfte im Dialog mit den Angestellten feststellen, welcher individuelle Bedarf überhaupt besteht und wie unterstützende Maßnahmen und Angebote konkret aussehen können.
2. Arbeitsorganisation anpassen
In der Regel ist den Beschäftigten mit (chronisch) kranken oder zu pflegenden Kindern daran gelegen, ihre Tätigkeiten weiterhin zu bewältigen. Gleichzeitig kann es Phasen geben, in denen die familiären Umstände eine Entlastung erforderlich machen. Um auf solche kurzfristigen Ausfälle vorbereitet zu sein ist es wichtig, Notfallpläne zu haben und gemeinsam mit der Führungskraft für das jeweilige Team passende Vertretungsregelungen festzulegen. Daher sollten Firmen ihre Arbeitsprozesse sowie betrieblichen Abläufe (z.B. Schichtarbeit, Dienstreisen, Urlaubsplanung etc.) dahingehend bewerten und mit allen Beteiligten gemeinsame Lösungen definieren.
3. Mobiles und flexibles Arbeiten ermöglichen, wo immer es geht
Flexible Arbeitszeiten sind für berufstätige Eltern von beeinträchtigten oder (chronisch) kranken Kinder besonders wichtig und entlastend. Überstundenabbau, Teilzeit-Stellen, Arbeitszeitkonten oder Sonderurlaub bzw. bezahlte Freistellung im Notfall sind dabei genauso entlastend wie die Möglichkeit zur Gleitzeit oder unkomplizierten Reduzierung der Arbeitszeit. Auch ein Job-Tandem kann sich als hilfreiche Maßnahme erweisen, um Eltern mit einem chronisch kranken bzw. zu pflegenden Kind zu unterstützen.
Oftmals können auch die Fahrtzeiten zwischen Wohnort und Arbeitsplatz zum Stressfaktor werden. Für Entlastung sorgt, wenn die Möglichkeit geschaffen wird, Tätigkeiten aus dem Home-Office heraus zu erledigen.
4. Bezuschussung haushaltsnaher Dienstleistungen
Haushaltsnahe Dienstleistungen schaffen berufstätigen Eltern, die (chronisch) kranke oder Kinder mit Pflegebedarf haben, erhebliche Freiräume, die dann für andere Dinge zur Verfügung stehen. Somit kann eine Bezuschussung in diesem Bereich für Mitarbeitende eine echte Entlastung darstellen, da sie sich für Tätigkeiten wie Reinigung, Einkaufen, Kinderbetreuung, Fahrdienste und einfache Reparaturen Unterstützung holen können und Ressourcen für andere organisatorische Dinge frei werden.
5. Kooperationen mit sozialen Dienstleistern oder Familiendiensten
Durch Rahmenverträge mit familienunterstützenden Diensten oder anderen sozialen Dienstleistern können Unternehmen ihren Mitarbeitenden schnellen und unbürokratischen Zugang zu verlässlichen Hilfspartnern ermöglichen. Diese können Mitarbeiter:innen in besonderen Lebenslagen unterstützen und sowohl Betreuungs- als auch medizinische, finanzielle und therapeutische Beratungsleistungen anbieten. Das wiederum entlastet berufstätige Eltern mit fordernden Lebensumständen und ermöglicht ihnen, der Erwerbstätigkeit nachzukommen. Auch die eigene Personalabteilung kann unterstützen, indem sie Artikel im Intranet, Broschüren oder Leitfäden mit relevanten Informationen zur Verfügung stellt.
Vereinbarkeitsmaßnahmen für besondere Lebensumstände zahlen sich aus
Unternehmen, die Mitarbeitende in Belastungssituationen unterstützen, profitieren in vielerlei Hinsicht. Intern können diese Mitarbeiter:innen ihr Wissen an Kolleg:innen in ähnlichen Situationen weitergeben und diese bestärken. Mitarbeitende, die Unterstützung darin erfahren ihre familiäre Herausforderungen mit der Arbeit in Einklang zu bringen, sind leistungsfähiger, motivierter, loyaler und identifizieren sich mit dem:der Arbeitgeber:in, wenn diese:r sie in ihrer ganzheitlichen Lebenssituation sieht.
In Folge sinken Fluktuation, Rekrutierungs- und Einarbeitungskosten. Zudem wirkt sich eine vereinbarkeitsorientierte Personalpolitik positiv in der Wahrnehmung auf dem Arbeitsmarkt aus und führt bei der Gewinnung von Fachkräften zu Wettbewerbsvorteilen.
Stephanie Poggemöller ist Betriebswirtin, Business Coach und systemische Beraterin. Sie ist Mutter zweier Kinder, von denen eines pflegebedürftig ist. Die Gründerin von Work & Family berät Unternehmen bei der Einführung von Vereinbarkeitsmaßen und berufstätige Eltern u.a. bei Fragestellungen zur Vereinbarkeit von Familie & Beruf sowie dem Wiedereinstieg nach der Elternzeit. LinkedIn | Website | Instagram
Körperliche Warnsignale werden oft ignoriert und es ist eine Herausforderung im Stress, auf sie zu hören. Doch wenn sich plötzlich ein kleiner Erdenbürger ankündigt, sieht das ganz anders aus. Warum eigentlich erst dann?
Judith ist 31 Jahr alt und arbeitet als Marketing Managerin in einem Unternehmen mit 200 Mitarbeitenden in Berlin. Sie liebt ihren Job und ist stolz auf ihre Karriere. Das Arbeitsumfeld, in dem sich Judith am wohlsten fühlt, gibt ihr Verantwortung in ihrer Rolle und lässt sie selbstbestimmt Entscheidungen treffen. Dann blüht sie regelrecht auf und setzt große Kräfte frei, um Projekte abzuschließen und ihnen das Sahnehäubchen aufzusetzen. Gerne steht sie dafür auch am Samstag vor dem gemeinsamen Frühstück mit ihrem Partner auf und setzt sich zwei Stunden an den Laptop. Es gibt ihr das Gefühl etwas geschafft zu haben und produktiv gewesen zu sein. Und wenn Sonntagabend nochmal ordentlich klar Schiff im E-Mail-Postfach gemacht wurde, dann startet die Woche für sie aufgeräumt und gut.
Wichtig hierbei ist aber für Judith, dass sie eigenständig handeln und entscheiden kann, wann sie viel arbeitet. Wenn das gerade in ihr Leben passt, am Wochenende keine großen Ausflüge anstehen oder sie sich nicht von der letzten durchfeierten Nacht erholen muss, gefällt es ihr, viel zu arbeiten. Problematisch wird es dann, wenn es vom Unternehmen erwartet wird oder sich Kolleg:innen gar an die Mehrarbeit gewöhnen und diese voraussetzen. Dann ist die Samstagmorgenschicht nämlich nicht befreiend, sondern eine Pflichtübung und die neue Woche beginnt müde und mit einem Druckgefühl auf der Brust. Dann hat Judith auch keinen Spaß an der Arbeit und ist schnell erschöpft, schlecht gelaunt und kann nicht mehr schlafen. Die Arbeit baut sich in ihre Träume ein, die morgendliche Runde um den Block vor dem Homeoffice fällt weg und an eine Mittagspause ist gar nicht zu denken.
Wenn der Druck zunimmt, nimmt das eigenständige Handeln ab
Zu Hause wird öfter gestritten, sogar der nicht ausgeräumte Geschirrspüler sorgt für Stress und der Zahnarztbesuch wird mal wieder aufgeschoben, weil einfach keine Zeit dafür ist. All das endet dann in der Regel in einer Mandelentzündung, das typische Zeichen von Judiths Körper, dass es zu viel war in den letzten Wochen und Monaten. Das war schon immer so und inzwischen weiß Judith immer besser, wie sie den stressigen Phasen entgegenwirken kann und wo sie sich einen Ausgleich schafft. Aber der Zyklus bleibt und Symptome von Stress und Krankheit ignoriert sie gekonnt, solange es geht. Schließlich will sie auf der Arbeit Anerkennung erfahren und ernst genommen werden.
Doch jetzt ist Judith schwanger und merkt, dass sich Stresssymptome nicht so leicht ignorieren lassen, wie das vorher der Fall war. Sie steht acht Wochen vor dem Mutterschutz und das Arbeitspensum ist gerade so hoch wie lange nicht mehr. Selbst aus dem Homeoffice wird es knapp mit der Energie. Die Mittagspause wird zwar nicht mehr übersprungen, aber ein hektisch eingenommenes Essen verursacht Bauchschmerzen und die ständige Anspannung führt zu einem harten Bauch, DEM Stresssymptom von Schwangeren. Judith will nicht die „Schwangeren-Karte“ ziehen und ihre Vorgesetze darauf aufmerksam machen, dass sie sich schonen muss. Aber sie ist sich auch dessen bewusst, dass nach ihrer Elternzeit keinen Dank dafür kommen wird, dass sie in der Schwangerschaft noch Überstunden geschoben hat. Dank dafür gab es sowieso noch nie, auf keinem Arbeitsplatz.
Sich der Verantwortung bewusst werden
Also wird sie sich ihrer Verantwortung bewusst und lässt sich ein Beschäftigungsverbot geben. Ab sofort arbeitet sie nur noch 4 Stunden am Tag. Das soll den Druck rausnehmen und ihr Zeit für Ruhe und Entspannung geben. Wer hätte gedacht, dass das so wichtig ist? Judith jedenfalls nicht. Die ersten paar Wochen sind noch holprig und sie versucht viel mehr den 8 Stundentag in 4 Stunden zu quetschen. Doch nach und nach schwinden die Aufgaben, es kommen wenige neue hinzu und auch die Chefin scheint verstanden zu haben, dass hier Rücksicht gefordert ist. Der Arbeitstag ist kürzer und dank der Rücksichtnahme von Kolleg:innen und Chefin auch entspannter.
Doch warum fängt Judith erst an auf ihren Körper zu hören, wenn sie eine Verantwortung für ein zweites Wesen hat? Warum hat sie nicht vorher die Verantwortung auf sich selbst aufzupassen ernst genommen? Schlafmangel, Angstzustände, schlechte Ernährung in stressigen Phasen… das alles kommt keiner Einweisung in die Psychiatrie oder einer langen Krankschreibung wegen Burn Out gleich, aber es sind Aspekte, von denen wir wissen, dass sie nicht zu einem gesunden Lebensstil gehören. Trotzdem übernehmen wir in Stresssituationen selten die Verantwortung für unsere physische und psychische Gesundheit und ziehen durch. Bis zum Wochenende, bis zum nächsten Urlaub, bis das Projekt abgeschlossen ist (und das nächste eigentlich schon wieder Deadline hat).
Welche Stressfaktoren gibt es bei Dir?
Lasst doch mal die Situationen in den letzten 6 Monaten Revue passieren, in denen ihr euch über einen längeren Zeitraum (länger als eine Woche) gestresst gefühlt habt.
Was war der Grund dafür? Die Arbeitszeit oder das Klima auf der Arbeit?
Hat sich die Situation aufgelöst oder verbessert?
Wenn ja, warum? Was hat dazu beigetragen?
Wenn nein, warum nicht?
Wie könnt ihr in solchen Situationen aktiv gegensteuern, statt zu warten, dass sie sich auflöst?
Denn gegensteuern, darin sollten wir alle viel besser werden. Wie werden immer wieder in Situationen kommen, in denen unser (Arbeits-)Umfeld wenig Rücksicht auf unsere Bedürfnisse nimmt. Es gilt, einen nachhaltigen Weg zu finden damit umzugehen, damit wir auch noch Kraft für die Dinge außerhalb des Arbeitslebens haben.
Judith freut sich jetzt erst mal auf die Elternzeit. Wie sie anschließend 40 Stunden arbeiten und gleichzeitig der neuen Mutterrolle gerecht werden soll, weiß sie noch nicht. Aber darum muss sie sich jetzt zum Glück noch keine Sorgen machen. Kommt Zeit, kommt Rat.
Der Krankenstand der Beschäftigten in Deutschland steigt seit einigen Jahren kontinuierlich an. Das stellt für Arbeitnehmer:innen eine organisatorische und finanzielle Herausforderung dar. Was das Gesetz von Arbeitgeber:innen verlangt, wenn Mitarbeiter:innen erkranken, und in welchen Fällen eine Krankheit zur Kündigung berechtigt, habe ich zusammengefasst.
Was passiert im Krankheitsfall?
Im Arbeitsrecht gibt es ein ganz einfaches Prinzip: „Ohne Arbeit, kein Lohn.“ Das ergibt sich daraus, dass der Arbeitsvertrag ein Austauschvertrag ist: Wenn ein Vertragspartner (der:die Arbeitgeber:in) die Leistung des anderen – also die Arbeit – nicht bekommt, soll dieser (der:die Arbeitnehmer:in) die Gegenleistung (die Vergütung) ebenfalls nicht erhalten. Der:die Arbeitgeber:in braucht nach diesem Grundsatz also kein Entgelt zu zahlen, wenn der:die Arbeitnehmer:in nicht arbeitsfähig ist. Dabei ist es erstmal völlig egal, ob die Arbeitsunfähigkeit aufgrund einer Erkrankung oder aus anderen Gründen besteht.
Vom Grundsatz „Ohne Arbeit kein Lohn“ gibt es aber zahlreiche Ausnahmen: bezahlter Erholungsurlaub, Entgeltfortzahlung an Feiertagen, Entgeltfortzahlung während der Mutterschutzfristen vor und nach einer Geburt… Das unterscheidet das Arbeitsverhältnis z.B. von der Beauftragung freier Mitarbeiter:innen, die das Honorar nur für die Zeit bekommen, in der sie auch tatsächlich ihre Leistung erbringen.
Entgeltfortzahlungsgesetz
Die krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit ist so ein Fall, in dem der:die Arbeitgeber:in verpflichtet ist, Lohn zu zahlen, ohne dafür eine Arbeitsleistung zu erhalten. Das Entgeltfortzahlungsgesetz sieht vor, dass Arbeitnehmer:innen, die aufgrund von Krankheit unverschuldet arbeitsunfähig sind, für die Dauer von sechs Wochen Anspruch auf Entgeltfortzahlung durch den:die Arbeitgeber:in haben. Wird der:die Arbeitnehmer:in dann infolge derselben Krankheit nochmal arbeitsunfähig, hat er:sie grundsätzlich keinen Anspruch darauf, nochmal Entgeltfortzahlung für sechs Wochen zu bekommen. Davon gibt es aber Ausnahmen, wenn zwischen der ersten Erkrankung und der neuen Erkrankung bestimmte Fristen liegen (dazu § 3 Entgeltfortzahlungsgesetz).
Erstattung für Unternehmen mit maximal 30 Mitarbeiter:innen
Für kleine und mittelständische Unternehmen stellt der krankheitsbedingte Ausfall ihrer Arbeitnehmer:innen zusammen mit der Pflicht zur Entgeltfortzahlung eine enorme wirtschaftliche Belastung dar. Aus diesem Grund gibt es in Deutschland für Arbeitgeber:innen, die nicht mehr als 30 Arbeitnehmer:innen beschäftigen, das sog. Umlageverfahren. Dadurch bekommen kleinere Arbeitgeber:innen die Entgeltfortzahlung durch die Krankenkassen teilweise erstattet. Das Ganze ist eine Art „Entgeltfortzahlungsversicherung“, die zumindest teilweise eine finanzielle Entlastung schafft.
Krankengeld von der Krankenkasse
Nach Ablauf der sechs Wochen Entgeltfortzahlung muss der:die Arbeitgeber:in nicht mehr zahlen. Stattdessen ist der:die Arbeitnehmer:in durch das Krankengeld abgesichert. Das wird von den gesetzlichen Krankenkassen in Höhe von 70% des Brutto-Gehaltes, maximal jedoch 90% des Netto-Gehaltes für die Dauer von maximal 72 Wochen gezahlt. Außerdem ist das Krankengeld gedeckelt und beträgt im Jahr 2021 max. 112,88 €/Tag.
Wann ist Krankheit ein Kündigungsgrund?
Wenn die krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit einzelner Arbeitnehmer:innen das vertragliches Austauschverhältnis über die Maße belastet, hat der:die Arbeitgeber:in die Möglichkeit, das Arbeitsverhältnis zu beenden. Das funktioniert – entgegen einem weit verbreiteten Irrglauben – auch während der bestehenden Erkrankung.
Findet auf das Arbeitsverhältnis das Kündigungsschutzgesetz Anwendung, weil der:die Arbeitnehmer:in länger als sechs Monate beschäftigt ist und im Betrieb in der Regel mehr als zehn Arbeitnehmer:innen angestellt sind, kann der:die gekündigte Arbeitnehmer:in gegen die Kündigung vor dem Arbeitsgericht klagen. Das Arbeitsgericht prüft dann im Rahmen eines Kündigungsschutzverfahrens, ob die konkrete Kündigung aus personen-, verhaltens- oder betriebsbedingten Gründen gerechtfertigt ist.
Personenbedingte Kündigung
Eine personenbedingte Kündigung kann ausgesprochen werden, wenn der Zweck des Arbeitsvertrags aufgrund der persönlichen Eigenschaften und Fähigkeiten von Arbeitnehmer:innen – oder deren Fehlen – dauerhaft nicht mehr erreicht werden kann. Dabei spielt es keine Rolle, ob der*die Arbeitnehmer:in die Leistungsverhinderung verschuldet hat oder nicht. Eine personenbedingte Kündigung kann zum Beispiel erklärt werden, wenn der*die Arbeitnehmer:in keine Arbeitserlaubnis hat oder in Haft ist. Der mit Abstand häufigste Fall der personenbedingten Kündigung ist in der Praxis aber die krankheitsbedingte Kündigung.
Wichtig ist dabei, dass die personenbedingte Kündigung nicht als Sanktion für Fehlzeiten aufgrund von Erkrankungen in der Vergangenheit erklärt werden darf. Entscheidend ist, dass die Prognose ergibt, dass das Arbeitsverhältnis in Zukunft aufgrund der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit massiv gestört wird und für den:die Arbeitgeber:in daher unzumutbar ist. Es spielt für die grundsätzliche Möglichkeit einer krankheitsbedingten Kündigung erstmal keine Rolle, um was für eine Erkrankung es sich handelt. Eine krankheitsbedingte Kündigung kann also bei psychischen Erkrankungen ggf. genauso gerechtfertigt sein wie bei einem Bandscheibenvorfall oder Alkoholabhängigkeit.
Voraussetzungen einer krankheitsbedingten Kündigung
Ob eine krankheitsbedingte Kündigung gerechtfertigt ist, wird anhand der folgenden drei Kriterien geprüft:
Negative Prognose
Da die Kündigung nicht als Sanktion für Fehlzeiten in der Vergangenheit erklärt werden darf, sondern dem:der Arbeitgeber:in die Möglichkeit gibt, sich vor unzumutbaren Belastungen in der Zukunft zu schützen, muss zum Zeitpunkt der Kündigung immer eine negative Prognose bzgl. der zukünftigen Ausfallzeiten bestehen. Da diese Prognose schwer zu treffen ist, haben sich in der Rechtsprechung Fallgruppen gebildet, bei denen der:die Arbeitgeber:in davon ausgehen darf, dass auch zukünftig erhebliche krankheitsbedingte Fehlzeiten auftreten. Hat ein:e Arbeitnehmer:in drei Jahre in Folge jeweils mehr als 30 krankheitsbedingte Fehltage aufgrund sog. häufiger Kurzerkrankungen, darf ein:e Arbeitgeber:in nach der Ansicht der meisten Arbeitsgerichte damit rechnen, dass die krankheitsbedingten Ausfallzeiten auch in Zukunft sehr hoch sind. Bei einer Langzeiterkrankung soll nach Ansicht der Arbeitsgerichte nach rund 18 Monaten eine negative Gesundheitsprognose bestehen, wenn das Ende der Krankheit nicht absehbar ist. Das sind jedoch nur ungefähre Richtwerte, die negative Prognose wird in jedem Einzelfall überprüft.
Erhebliche Beeinträchtigung der betrieblichen oder wirtschaftlichen Interessen
Liegt die negative Gesundheitsprognose vor, muss der:die Arbeitgeber:in darlegen, dass es infolge der krankheitsbedingten Fehlzeiten zu erheblichen Beeinträchtigungen der betrieblichen oder wirtschaftlichen Interessen kommt. Das können wirtschaftliche Belastungen durch hohe Entgeltfortzahlungskosten sein, aber auch Störungen im Produktionsablauf.
Interessenabwägung
Im letzten Schritt findet eine Interessenabwägung statt. Nur wenn die erheblichen betrieblichen Beeinträchtigungen zu einer nicht mehr zumutbaren Belastung des Arbeitgebers führen, ist eine krankheitsbedingte Kündigung gerechtfertigt. Im Rahmen der Interessenabwägung wird berücksichtigt, ob die Krankheit auf betrieblichen Ursachen beruht, wie lange das Arbeitsverhältnis unbelastet bestand und ob der/die Arbeitgeber:in ein sog. betriebliches Eingliederungsmanagement (kurz BEM) durchgeführt oder zumindest ordnungsgemäß angeboten hat.
In der Praxis spielen alle diese Punkte im Rahmen des Kündigungsschutzverfahrens zwar eine Rolle. Die allerwenigsten Verfahren enden aber tatsächlich mit einem Urteil, das feststellt, ob die Kündigung gerechtfertigt war. Stattdessen einigen sich die Parteien in den meisten Fällen auf einen Vergleich, der die Beendigung des Arbeitsverhältnisses und die Zahlung einer Abfindung beinhaltet. Zu wessen Gunsten dieser Vergleich ausfällt, hängt jedoch wiederum stark davon ab, wie die Erfolgsaussichten der Kündigungsschutzklage waren, ob die Kündigung also gerechtfertigt war – oder nicht.
Unsere Arbeitswelt ist schnell geworden. So schnell, dass der Geist von Arbeitnehmer:innen oft hilflos hinterherstolpert. Psychische Erkrankungen sind inzwischen die zweithäufigste Diagnosegruppe bei Krankschreibungen und Arbeitsunfähigkeit. Dass die mentale Gesunderhaltung von Mitarbeiter:innen eine wichtige Managementaufgabe ist, liegt auf der Hand. Gesetzlich vorgeschrieben ist sie ohnehin. Aber was können Unternehmen konkret tun? Und lassen sich Mitarbeiter:innen überhaupt auf die Auseinandersetzung mit ihrer psychischen Gesundheit ein?Nachdem ich mit dem agil arbeitenden Webhoster Mittwald über diese Fragen gesprochen habe, habe ich in einer ganz anderen Branche nach Antworten gesucht: im Handwerk.
Gesundheitsförderung im Handwerk: Weniger Termindruck, mehr Austausch
Dazu telefoniere ich mit Nicole Karger. Sie leitet gemeinsam mit ihrem Kollegen Detlef Stolze den achtköpfige Malerhandwerksbetrieb hand-werk-zwei, der sich auf Wohngesundheit spezialisiert hat. Von ihr möchte ich wissen, welche Stressfaktoren es in ihrer Branche gibt. „Im Wesentlichen sind das drei“, antwortet mir die Dortmunderin. „Der Termindruck, der große kommunikative Abstimmungsbedarf auf den Baustellen und der Facharbeiter:innenmangel, der es oft nicht ermöglicht, Arbeiten mit gutem Gewissen zu delegieren und dann aus dem Kopf zu streichen. Wenn qualifizierte Kräfte fehlen, bleibt die Verantwortung auf den Schultern derer, die fachspezifisch ausgebildet sind.“
Seit 2011 setzt sich Nicole Karger dafür ein, diesen Stress innerbetrieblich so gering wie möglich zu halten. Aus leiderprobter Überzeugung. Denn nach der Gründung von hand-werk zwei haben Detlef Stolze und sie den Stress vor allem an sich selbst gespürt. Über 60 Arbeitsstunden pro Woche waren bei vollen Auftragsbüchern keine Seltenheit. Schnell entschied das Führungsteam, dass es den damit einhergehenden Stress nicht über Jahrzehnte haben möchte. Beide begannen privat mit einem mehrmonatigen Achtsamkeitsseminar – und merkten, wie sich ihr Umgang mit hoher Belastung tatsächlich veränderte. „Da war uns schnell klar: Das müssen wir auch unseren Mitarbeitenden ermöglichen.“
Deren Reaktion: Ernüchternd. „Das Team war nicht unbedingt begeistert. Damals waren Begriffe wie Achtsamkeit, Yoga und Selbstfürsorge noch nicht so en vogue wie heute. Und man darf nicht vergessen, dass wir es fast ausschließlich mit Männern im Handwerk zu tun haben. Ein rauer Ton in Handwerksbetrieben und auf Baustellen ist normal, weichere Töne und Themen sind ungewohnt.“ Doch Nicole Karger gab nicht auf. „Streng genommen, habe ich das Team gezwungen“, schmunzelt sie.
Gesundheitsförderung im Handwerk: Mach mal Pause!
In den kommenden Jahren tat sich unter ihrer Federführung eine Menge. Die Besprechungskultur wurde so weiterentwickelt, dass alle im Team regelmäßig Gelegenheit bekamen, sich einzubringen. Was im Kontext von Bürojobs nicht ungewöhnliches ist, kommt im Handwerk einer kleine Revolution gleich. „Sich zusammenzusetzen und gemeinsam Lösungen zu erarbeiten ist in vielen Handwerkbetrieben nicht etabliert“, berichtet Geschäftsführerin Karge. „Da bekommen die Handwerker:innen einfach zu Beginn des Arbeitstages eine Liste mit Aufgaben und fertig.“ Mitsprache und Rückkopplung seien häufig nicht gewünscht. Dementsprechend hätte man den Mitarbeitenden anfangs „alles aus der Nase ziehen müssen“, inzwischen seien diese Gespräche aber deutlich lebendiger.
Auch die Pausenkultur folgt einer klaren Leitlinie: „Auszeiten sind bei uns in Ordnung, wir erachten sie vielmehr als notwendig für gute Leistung“, so Karger. „Bei uns muss niemand acht Stunden durcharbeiten ohne mal zu verschnaufen. Denn was für kreative Arbeit gilt, gilt auch bei körperlicher Arbeit: Nach einer Pause widmet man sich Aufgaben wieder mit einer neuen Haltung, manchmal sogar mit einer neuen Idee.“ Dementsprechend sei es für ihren Mit-Geschäftsführer Detlef Stolze, der oft vor Ort auf den Baustellen ist, selbstverständlich, mit dem Team auch mal eine kleine Kaffeepause einzulegen und zu schnacken.
„Es geht doch um die Gesundheit der eigenen Mitarbeiter:innen – wie kann einem das egal sein?“
Nicole Karger
Als wiederkehrendes Instrument, um die körperliche und mentale Gesundheit im Team zu schützen, nutzt hand-werk zwei außerdem Angebote der IKK. Auch für kleine Betriebe bietet die Krankenkasse Inhouse-Schulungen zu Gesundheitsthemen an. Zeitaufwand: Vier Wochen lang je ein Nachmittag pro Woche. Nicole Karge organisiert diese Schulungen regelmäßig. „Wir müssen ja lediglich Zeit abzwacken, ansonsten kostet uns das nichts. Ich verstehe überhaupt nicht, warum so viele Betriebe dieses Angebot nicht wahrnehmen. Es geht doch um die Gesundheit der eigenen Mitarbeiter:innen – wie kann einem das egal sein?“
Gesundheitsförderung im Handwerk: Körperliche Arbeit erleichtern
Dass sie irgendwann einmal mit ihren Vorgesetzten im Rahmen einer solchen Schulung in der Betriebsküche gesunde Pausenbrote zubereiten würden, hätten die Mitarbeitenden vermutlich zu Beginn ihrer Tätigkeit für hand-werk zwei nicht gedacht. „Vor solchen Schulungen hält sich die Begeisterung immer mal wieder in Grenzen, hinterher gibt es aber immer positives Feedback. Ich gehe daher sportlich mit den Widerständen um. Weil ich merke, dass sich etwas verändert. Es ist ein stetiger Prozess.“ Wichtig sei, dranzubleiben, so Karge. Immer wieder neu zu justieren.
Und wichtig sei auch, mit solchen Maßnahmen nicht über schlecht organisierte Rahmenbedingungen hinwegtäuschen zu wollen. „Es liegt natürlich auch in unserer Verantwortung, den Mitarbeitenden die körperlich sehr schwere Arbeit zu erleichtern. Wir haben deshalb einige Hilfsmittel im Einsatz. Beispielsweise Winden, mit denen Material nach oben gezogen werden kann, damit unsere Teams nicht alles selbst schleppen müssen. Ist keine teure Sache und eigentlich sehr naheliegend, aber Sie glauben ja gar nicht, wie viele Betriebe ihren Mitarbeiter:innen so etwas nicht anbieten.“
Überhaupt, so sagt sie, sei es schwer nachzuvollziehen, was Fachkräfte in der Handwerksbranche manchmal freiwillig ertragen, obwohl sie kreuzunglücklich sind. „Wir haben von Anfang an gesagt, dass wir eine andere Firma sein wollen. Eine, in der Menschen gesund alt werden können.“ Der Blick auf den enorm geringen Krankenstand und die hohe Produktivität zeige, dass das derzeit gelingt. Aber für Nicole Karger ist auch etwas ganz anderes ein Beweis dafür, dass sie in den vergangenen zehn Jahren interner Skepsis zum Trotz eine Atmosphäre geschaffen hat, die den Einzelnen mental gut unterstützt: „Mitarbeitende wenden sich auch mit privaten Nöten ab und zu an uns. Das zeugt von Vertrauen.”
Corona fordert uns und unser Nervenkostüm nach wie vor bis an die Grenzen. In mindestens einem Punkt könnte die Pandemie unsere Arbeitswelt allerdings langfristig in eine gesünderer Richtung verändern – im Bereich der Mobilität. Denn: Es wird weniger gependelt. Derzeit zwangsläufig, langfristig vermutlich freiwillig: zwei verschiedene Blitzumfragen ergaben übereinstimmend, dass über 60 Prozent der Befragten nach der Krise das Arbeiten von zu Hause beibehalten wollen. Was durchaus zu verstehen ist, hat Pendeln doch häufig negative Auswirkungen auf das Sozialleben und die Gesundheit.
Das bestätigt der aktuelle BKK-Gesundheitsreport 2020 mit Daten aus den Jahren 2019 und 2020. Er kommt zum Ergebnis, dass (vor der Pandemie) immer mehr Menschen zur Arbeit pendelten, fast jede zweite angestellte Person arbeitete ganz oder teilweise mobil – Tendenz steigend. Der Arbeitsweg ist in der Vergangenheit zudem immer länger geworden: Vor 20 Jahren lag die durchschnittliche Wegstrecke noch bei weniger als 15 km, inzwischen sind es 17 km.
Pendeln kann krank machen
Dies blieb nicht ohne Folgen: Pendler:innen leiden häufiger als Nicht-Pendler:innen an psychosomatischen Beschwerden, einem geringeren Wohlbefinden und Unzufriedenheit. Erschöpfung, Kopf-, Nacken- und Gliederschmerzen sowie Schlafschwierigkeiten sind nur einige der weiteren Symptome, die bei Pendler:innen diagnostiziert wurden. Weiterhin belastet sie der Stress durch chronische Zeitknappheit und die Abwesenheit vom Lebensmittelpunkt, da damit die Vereinbarkeit von beruflichen und privaten Wünschen und Aufgaben erschwert wird. Die negativen Folgen nehmen in der Regel mit der Pendeldauer bzw. -distanz zu.
Die Corona-Krise hat uns gezeigt, dass ein Großteil der Arbeiten auch von zu Hause aus erledigt werden können und mit Hilfe der digitalen Medien im Homeoffice viel mehr möglich ist, als bisher gedacht. In vielen Unternehmen werden bereits Hybrid-Arbeitsmodelle aus Büro-Tagen und Homeoffice-Tagen für die Zeit nach der Pandemie vorbereitet. Angestellte solcher Unternehmen werden dann zwar auch noch pendeln, aber weniger. Und vermutlich nur an den Tagen, an denen die zusätzliche Wegezeit am wenigsten mit anderen Terminen kollidiert. Die Konsequenz: weniger Stress, mehr Wohlbefinden.
Virtuell vom heimischen Schreibtisch aus zu arbeiten ist außerdem ökonomischer und ökologischer: weniger Ausgaben für Benzin oder ÖPNV-Tickets, weniger Emissionen und freiere Straßen – um nur einige Beispiele zu nennen.
Pendeln hat auch gute Seiten
Aber nicht alle Pendler:innen sind glücklich, wenn sie im Homeoffice sind. Einigen Arbeitnehmer:innen fehlt die Fahrt ins Büro als Übergang zwischen dem Berufs- und dem Privatleben, denn auf dem Arbeitsweg konnten sie sich mental auf die Arbeit vorbereiten, haben gelesen, geschlafen, einen Podcast gehört oder anderweitig die Zeit für sich genutzt. Es kommt also stark darauf an, ob die Personen freiwillig mobil sind – denn dann zeigen sich kaum negative Folgen für Gesundheit und Wohlbefinden.
Es stellt sich trotzdem die Frage, wie die Arbeit der Zukunft aussehen könnte. Vielleicht wird das Büro zu einer Art Klubhaus, wo man sich gezielt trifft: zu besonderen Anlässen, um sich auszutauschen oder zusammen an einem Projekt zu arbeiten. Denn, und auch das hat die Krise gezeigt, die Kraft die man aus dem sozialen Miteinander zieht, ist schwer zu ersetzen und den kleinen Plausch in der Teeküche mit den Kolleg:innen vermissen viele Arbeitnehmer:innen in den Zeiten der Krise sehr. Wie so häufig: die Mischung macht‘s.
Die nächsten Jahre werden zeigen, wie sich die gesammelten Erfahrungen aus der Corona-Krise auf die berufliche Mobilität auswirken und ob sich damit möglicherweise auch der Pendelstress verringert.
Die Aussagen dieses Artikel beruhen auf folgenden Quellen:
Unsere Arbeitswelt ist schnell geworden. So schnell, dass der Geist von Arbeitnehmer:innen oft hilflos hinterherstolpert. Psychische Erkrankungen sind inzwischen die zweithäufigste Diagnosegruppe bei Krankschreibungen und Arbeitsunfähigkeit. Dass die mentale Gesunderhaltung von Mitarbeiter:innen eine wichtige Managementaufgabe ist, liegt auf der Hand. Gesetzlich vorgeschrieben ist sie ohnehin. Aber was können Unternehmen konkret tun? Und lassen sich Mitarbeiter:innen überhaupt auf die Auseinandersetzung mit ihrer psychischen Gesundheit ein? Ich habe in verschiedenen Unternehmen nach Antworten gesucht – unter anderem bei Blinkist.
Bei Blinkist sei es kein Problem, sogenannte “mental health days” zu nutzen, berichtet mir Vilma Ala-Tuuhonen vom People Developement Team. „Es ist okay, wenn jemand sagt, dass er:sie gerade eine Pause braucht.“ Und auch sonst klingt erst einmal alles beim Berliner App-Unternehmen nach einem Umfeld, das Mitarbeitende gesund erhält: Teams, die sich zum digitalen Brettspielen verabreden, Meditationsangebote, eine vegane Kantine mit kostenlosem Essen, Getting-things-done-Workshops… Kann da noch was schiefgehen?
Oh ja, wie sich im vergangenen Jahr offenbarte. Bei Blinkist passierte pandemiebedingt das, was viele Organisationen 2020 erlebten: Plötzlich wurde auch am Arbeitsplatz über psychische Belastungen gesprochen. „Bei uns ist das Thema Mental Health durch Covid erstmals so richtig hochgekommen“, erinnert sich Vilma Ala-Tuuhonen. Und es zeigte sich, dass die Teams deutlich überlasteter waren als gedacht.
Gesundheitsförderung im Unternehmen: Mitarbeiter:innen befragen
Blinkist nahm diese Entwicklung sofort sehr ernst und bildete zwei Arbeitsgruppen mit insgesamt sechs Personen („Learning & Development Team“), um herauszufinden, welche unterstützenden Maßnahmen für die Teams sinnvoll sein könnten und wie sich diese in die Organisationsstruktur aufnehmen lassen. Als erstes wurde der Fragenkatalog der dreimal im Jahr unternehmensweit verteilten Umfrage angepasst. Dort fehlte das Thema Mentale Gesundheit bislang vollständig. Die erste Auswertung war dann erschreckend eindeutig.
„Es war klar: Shit, wir haben da ein Problem.“
Vilma Ala-Tuuhonen:
Von „Shit, wir haben da ein Problem“ führte die Überlegung, wie man der Situation begegnen kann, schnell zu Deutschlands erster Agentur für psychische Gesundheit, deren Name passender nicht sein könnte: SHITSHOW. Die Berliner Beratungsagentur befähigt Organisationen, ihre Struktur und Kultur psychisch gesund zu gestalten und ihre Mitarbeitenden für Mental Health zu begeistern. Dafür hat sie eine Reihe an Workshopformaten entwickelt.
Mit Blinkist setzte SHITSHOW zunächst eine tiefgreifende Learning-Journey zum Thema Stress-Management um. „Bei unserer ergänzenden Trainingsreihe setzen wir den Fokus nun darauf, vom Wissen wirklich auch ins Handeln zu kommen“, skizziert Nele Groeger von SHITSHOW die derzeitige Zusammenarbeit. „Das Learning & Development Team von Blinkist hat in diesem Zusammenhang wichtige Impulse gegeben und eine große Bereitschaft gezeigt, die Situation für ihre Mitarbeiter:innen zu verbessern. Das ist natürlich die beste Grundlage für solch einen Prozess.“
Und trotzdem hätte es immer mal wieder Momente gegeben, in denen die Maßnahmen von Mitarbeitenden nicht positiv aufgenommen wurden, erzählt Vilma Ala-Tuuhonen ohne Frust. Wie Rebecka Karsten von Mittwald ist auch sie sich bewusst darüber, dass Menschen und Teams viel zu unterschiedlich sind, als dass eine Maßnahme für alle den gleichen Nutzen hätte. “Wichtig ist daher, den Mitarbeitenden glaubwürdig zu vermitteln, dass keine Maßnahme als Allheilmittel gedacht sei. „Es muss von uns beispielsweise klar kommuniziert werden, dass mit einem SHITSHOW-Seminar nicht sofort alles gelöst ist, sondern dass wir solch eine Maßnahme nur als Teil der Lösung verstehen.“
Gesundheitsförderung im Unternehmen: Realistisches Arbeitspensum ermitteln
Außerdem gäbe es auch Zeitpunkte, in denen solche Angebote zu spät kämen. „Wenn jemand schon stark über seine Grenzen gegangen ist, kann man von der Person nicht mehr erwarten, dass sie sich noch mit dem eigenen Stressmanagement auseinandersetzt.“ Genau deshalb nimmt Blinkist derzeit auch die Arbeitsbelastung der einzelnen Teams genauer unter die Lupe. Gerade 2020 seien überdurchschnittlich viele Überstunden aufgelaufen und es gäbe Teams, deren Aufgabenvolumen so hoch sei, dass es den Mitgliedern gar nicht mehr gelänge, das mit freien Tagen wieder auszugleichen.
„Das wollen wir natürlich so nicht“, sagt Vilma Ala-Tuuhonen. „Genau deshalb arbeiten wir ja eigentlich in zweiwöchigen Sprints, die einen klaren Fokus ermöglichen. Das heißt, wir arbeiten in dieser Zeit ausschließlich an einer definierten Sache und nehmen in dieser Zeit nichts anderes an Todos an. Aber es sieht danach aus, als hätten wir das spätestens in der Corona-Pandemie durch das Arbeiten im Home Office nicht so gut geschafft. Umso glücklicher können wir sein, dass wir das Thema Mentale Gesundheit so schnell auf die Agenda gesetzt und mit externer Unterstützung vorangetrieben haben. Durch die Umfrage und die ersten Seminare mit SHITSHOW haben wir das grundlegende Problem erkannt und es inzwischen auch bei allem Mitarbeiter:innen sichtbar gemacht.“
Gesundheitsförderung im Unternehmen: Corona verlangt Umdenken
Am Ende seien sie aber noch lange nicht, ganz im Gegenteil. „Für uns ist klar, dass wir langfristig nicht wieder arbeiten wollen wir vor Corona. Wir wollen ein Hybridsystem aus Officekultur und Remotekultur bauen. Und beides zusammen soll die mentale Gesundheit unterstützen statt schwächen. Um das zu erreichen haben wir daher noch viel zu tun in nächster Zeit.“
Auch konkrete Wünsche der Mitarbeiter:innen gelte es noch auf Umsetzbarkeit zu prüfen. „Viele haben sich Sportkurse gewünscht. Auch ein unternehmensinterner Ansprechpartner bzw. eine Ansprechpartnerin für psychische Anliegen kam als Idee.“ Zwei Vorschläge konnten bereits umgesetzt werden: die Mitarbeiter:innen von Blinkist haben Ende 2020 einen finanziellen Bonus fürs Homeoffice sowie ein mit Guthaben gefülltes Konto bei einem Essenslieferdienst bekommen.
Als Frauke Lucks und Cornelius Hünemeyer Anfang der 2000er-Jahre Büronachbar*innen wurden, hätten sie wohl nicht erwartet, dass sie sich gut 20 Jahre später nicht mehr nur denselben Flur, sondern aber dieselbe Führungsposition teilen würden. Heute leiten die beiden bei HAMBURG WASSER einen der wichtigsten Geschäftsbereiche mit 600 Mitarbeiter*innen, die sich auf sieben Standorte verteilen. Ich wollte wissen, wie das im Alltag funktioniert, wie es überhaupt zu dem Modell kam und was sich seitdem in ihrem Leben verändert hat. Im virtuellen Gespräch haben sie mir Antworten gegeben.
Geteilte Führung – dieses Thema bahnte sich einige Jahre heimlich, still und leise den Weg in die Öffentlichkeit. In diesem Jahr, so mein Eindruck, ist es aber so richtig laut geworden. Ein Trend nahezu. Kaum ein Leadership-Kongress kommt ohne einen Blick auf Doppelspitzen aus – was ich persönlich ganz hervorragend finde. Was auffällt: Die Beispiele für Top-Sharing kommen meist aus Konzernen und sind vorwiegend weiblich geprägt. Umso schöner, mit Frauke Lucks und Cornelius Hünemeyer ein genderdiverses Duo gefunden zu haben.
Informationen zu den Interviewpartner*innen >>
Frauke Lucks (47) arbeitet seit 2000 bei HAMBURG WASSER und hat seitdem verschiedene Stationen im Unternehmen durchlaufen. Sie war im Bereich Externe Leistungen tätig, dann neun Jahre im Betrieb der Netze Gruppenleiterin. Sie arbeitete anschließend als Referentin der Geschäftsführung und in der Organisationsentwicklung. 2019 ist sie aus einer Nicht-Führungsposition ins Top-Sharing Modell gewechselt. Frauke Luks ist verheiratet und lebt mit ihrem Mann in Reinbek bei Hamburg.
Cornelius Hünemeyer (54) st seit über 20 Jahren bei HAMBURG WASSER beschäftigt. Auch er war in verschiedenen Rollen tätig: nach seinem Start im Umfeld der Geschäftsführung hat im Bereich Netze in den Folgejahren unterschiedliche Aufgaben übernommen und ist dort 2016 schließlich Bereichsleiter geworden. Drei Jahre hat er diese Führungsposition allein besetzt, seit 2019 teilt er sie sich die Stelle als erstes Top-Sharing von HAMBURG WASSER mit Frauke Lucks. Cornelius Hünemeyer ist Vater einer erwachsenen Tochter und eines Kleinkindes und lebt mit seiner Familie derzeit bei Hamburg.
Überwiegend ist es außerdem so, dass sich Job-Tandems gemeinsam auf eine ausgeschriebene Stelle bewerben. In diesem Fall war es anders: Cornelius Hünemeyer hatte die Leitung des Bereichs „Netze“, der für die Versorgung von zwei Millionen Menschen mit Trinkwasser und für die entsprechende Entsorgung von Abwasser betraut ist, zunächst drei Jahre allein inne. Eine Position, die er bis heute gerne besetzt. Dass er sie im Frühling 2019 dennoch nicht mehr allein und in Vollzeit ausfüllen wollte, hatte im Wesentlichen zwei Gründe.
„Die Aussicht, noch weitere 15 Jahre denselben Job allein zu machen, dabei immer eng getaktet zu sein – da fehlte etwas.“
Cornelius Hünemeyer
Einer davon ist ein (vor allem für Frauen) häufiger: Cornelius Hünemeyer und seine Frau waren kurz zuvor Eltern geworden. Für ihn war das, wie er selbst sagt, „der akute Auslöser, Nägel mit Köpfen zu machen“. Ihn habe aber auch eine ganz andere Überlegung dazu bewegt: „Mit über 20 Jahren bin ich schon wirklich lange im Unternehmen. Die Aussicht, noch weitere 15 Jahre denselben Job allein zu machen, immer getaktet zu sein – da fehlte etwas. Ich möchte einen Teil meiner wöchentlichen Zeit auch mit etwas anderem verbringen. Natürlich gern mit Kind, Familie und Haushalt, aber auch mit ganz anderen Dingen. Ich bin überzeugt davon, dass man dadurch in allem viel besser ist, weil man andere Einflüsse, Inspiration und Ausgleich hat.“
Top-Sharing: Idee bei der Geschäftsleitung platzieren
Diese Erkenntnis kam zu einem passenden Zeitpunkt: Weil Bereichsleiter*innen-Stellen bei HAMBURG WASSER traditionell befristet sind, stand für Cornelius Hünemeyer ohnehin ein Gespräch mit der Geschäftsleitung zur potentiellen Vertragsverlängerung an. Das nutzte der frischgebackene Familienvater, um den Vorschlag, seine Stelle zu zweit zu besetzen, vorzubringen. Die Reaktion der Geschäftsführung? “Ich weiß es nicht mehr ganz genau“, grübelt Hünemeyer. „Die Reaktion war sehr positiv und gleichzeitig professionell. Da es bislang kein Top-Sharing bei HAMBURG WASSER gab, verständlicherweise auch ein wenig irritiert. Ich wurde entsprechend schnell gefragt, wie ich mir das konkret vorstelle.“ Darauf habe er dann ebenso schnell eine Antwort gehabt, wobei „ich mich ehrlich gesagt nicht mit Modellen anderer beschäftigt habe, sondern einfach von meiner Erfahrung mit der Stelle ausgehend überlegt habe, wie man sie sich teilen könnte.“
Nachdem die Idee akzeptiert und konkretisiert worden war, startete ein Besetzungsverfahren, an dem der bisher alleinige Stelleninhaber Hünemeyer vorerst nicht beteiligt war. „Das war die Spielregel. Ich habe Frau Lucks als mögliche Tandempartnerin ins Gespräch gebracht. Die Geschäftsführung behielt sich vor, die Person, mit der sie dann zusammenarbeiten, zunächst allein auszuwählen. Ich habe keine Bewerbungen gesehen und auch nicht ausgiebig mit der begleitenden Personalabteilung gesprochen. Mit ihr gab es, wenn ich mich recht erinnere, nur ein kurzes Gespräch, in dem abgeklopft wurde, was ich für ein Mensch bin und wer dazu passen könnte.“ Ich fragte, ob er am Ende ein Veto hätte einlegen können, sollte jemand ausgewählt worden sein, mit dem er sich die Zusammenarbeit so gar nicht hätte vorstellen können. „Ich weiß nicht, vermutlich schon? Zu einem Veto ist es ja glücklicherweise nicht gekommen.“
Frauke Lucks, seine ehemalige Flurnachbarin, war es, die nach Gesprächen mit der Geschäftsleitung und einem Management Appraisal als neue, zweite Besetzung der Leitungsstelle benannt wurde. Ganz am Anfang, als sie erfuhr, dass „geteilte Leitung” bedeuten würde, ihrer bisherigen Arbeitszeit fast zu halbieren, war sie „ehrlich gesagt etwas geschockt. Ich habe immer Vollzeit gearbeitet und das gehörte zu meinem Selbstbild. Also, dass ich montags zur Arbeit gehe und freitags ins Wochenende. Als ich hörte, dass es um eine 55%-Stelle geht, habe ich mich erstmal irritiert gefragt, was ich denn mit der freiwerdenden Zeit machen soll.“
Top-Sharing: Ideal für alle, die kein einsamer Wolf sein wollen
Zwei Aspekte gaben für sie dann aber dennoch den Ausschlag, ins Top-Sharing zu gehen: die Leidenschaft für den Unternehmensbereich „Netze“ sowie die Möglichkeit, in diesem Modell Führung so mit Leben zu füllen, wie es ihrer Überzeugung entspricht. „Oft haben Führungskräfte Angst, sind einsam oder überlastet“, fasst Frauke Lucks ihre Erfahrungen zusammen. „Als ich selbst Führungskraft war, fühlte ich mich häufig getrieben. Ich war nicht gut im Kontakt mit mir, konnte mein Potenzial nicht voll abrufen und war entsprechend nicht immer glücklich mit dem Job.“ Ein Top-Sharing-Modell ermögliche auch Menschen wie ihr, die kein einsamer Wolf sein wollen, die Rolle als Führungskraft.
„Zu wissen, dass wir als Team bessere Lösungen finden als ich allein, ist für mich eine totale Entlastung.“
Frauke Lucks
Heute, nach gut eineinhalb Jahren Praxiserfahrung, kommt für sie noch ein weiterer Vorteil hinzu: „Ich erlebe, wie großartig es ist, jemanden zu haben, der eins zu eins den gleichen Job macht. Der sich verantwortlich fühlt für das Gleiche. Natürlich machen wir auch Sachen allein, aber in wichtigen Punkten einen Sparringspartner zu haben, mit dem man über offene Fragen sprechen kann, das ist toll. Zu wissen, dass wir in diesen Punkten als Team dann bessere Lösungen finden als die, die ich allein gefunden hätte, das ist für mich eine totale Entlastung.“
Das bestätigt auch Führungskollege Hünemeyer: „Wir sind zu zweit im Hirn mehr. Ich habe mehr Gedanken und mehr Ideen als allein. Wir können sehr schnell anstehende Entscheidungen abklopfen, mit dem gleichen Fokus, aber mit unterschiedlichen Nuancen in der persönlichen Betrachtung. In der Sache erreichen wir also mehr, die persönliche Last ist währenddessen geringer. Das ist nicht nur für uns persönlich gut, sondern auch fürs Unternehmen.“
Top-Sharing: So funktioniert die konkrete Zusammenarbeit
Nachdem ich dem Duo Lucks und Hünemeyer eine Weile zugehört habe, habe ich keine Zweifel mehr daran, dass ihre Zusammenarbeit sehr gut funktioniert. Niemand der beiden scheint irgendwelche Eitelkeiten mit sich herumzutragen, beide scheinen vor allem an einem interessiert zu sein: dass ihr Geschäftsbereich gut funktioniert. Aber wie gelingt das konkret im Tagesgeschäft? Wie werden in einem Führungs-Tandem Informationslücken vermieden und Zuständigkeiten definiert? Und wie Arbeitszeiten verteilt? Auch zu diesen Fragen bekomme ich Antworten – und sie fallen weit weniger komplex aus, als ich es vermutet habe.
Arbeitszeitaufteilung
Die eine Hälfte des Duos arbeitet montags bis mittwochs, die andere mittwochs bis freitags. Wer die erste Hälfte der Woche übernimmt und wer die zweite, rotiert monatlich. „Damit stellen wir sicher, dass jede*r von uns bei Meetings, die immer an bestimmten Wochentagen stattfinden, regelmäßig vertreten ist.“
Persönlicher Austausch
Der gemeinsame Mittwoch ermöglicht Frauke Lucks und Cornelius Hünemeyer, sich persönlich über Themen und To Dos abzustimmen. Durchschnittlich zwei Stunden werden dafür benötigt. Außerdem telefonieren beide traditionell am Ende ihrer jeweiligen Arbeitseinheit, also Dienstagabend bzw. Freitagabend miteinander, um einen kurzen Überblick über die Geschehnisse zu geben. Der Zeitaufwand dafür: ebenfalls rund zwei Stunden wöchentlich.
Hinzu kommen spontane Telefonate, die sich durch Corona in ihrer Zahl erhöht haben. „Den Abstimmungsbedarf sollte man nicht unterschätzen und sich unbedingt erlauben. In unserem Metier ist es jedenfalls sehr nötig, weil es bei uns viel Tagesgeschäft gibt. Der morgens gefasste Plan geht oft dann doch nicht auf und man muss sich über die tagesaktuellen Themen in Technik und Personal austauschen.“
Digitaler Austausch
Mehrdimensionale Cloud-Lösungen? Ein hoch frequentierter Chatkanal? Teure Projektmanagement-Software? Welche digitalen Lösungen und Routinen werden vom Duo Lucks-Hünemeyer genutzt? Die erstaunliche Antwort: „Nachdem wir einiges davon ausprobiert haben, sind wir am Ende beim guten alten Word-Dokument gelandet.“ Innerhalb einer Ordnerstruktur werden einzelne Dokumente abgelegt, an denen gemeinsam gearbeitet wird. Frauke Lucks hat zudem immer eine Entwurf-Email an Cornelius Hünemeyer offen, wo sie während ihres Arbeitsabschnittes regelmäßig Punkte hinzufügt, die für die Übergabe an ihrem letzten Arbeitstag relevant sind. Die schickt sie dann am Ende ab und geht sie ergänzend mit ihrem Kollegen am Telefon durch. „Es liegt gar nicht so sehr an den Werkzeugen, ob etwas klappt oder nicht“, meint dieser. „Man kann mit sehr einfachen Werkzeugen eine Menge schaffen, zumindest hier in unserem Arbeitsbereich.“
Austausch mit dem Team
Jede*r der 600 Mitarbeiter*innen des Geschäftsbereiches Netzes hat einen disziplinarischen Ansprechpartner. Routinen mit Abteilungsleiter*innen, mit denen beide zu tun haben, werden auf den gemeinsamen Mittwoch gelegt. Ein „Ausspielen durch Mitarbeiter*innnen“ gäbe es nicht. Sowohl Frauke Lucks als auch Cornelius Hünemeyer sehen die Wahl zwischen zwei Ansprechpartner*innen im Tagesgeschäft vielmehr als Chance: „Durch zwei Personen steigt die Chance, dass Mitarbeiter*innen ein passenderes Gehör finden. Unser Team weiß und bemerkt unsere Unterschiedlichkeit und es ist auch total okay, wenn sich jemand überlegt, eine Sache eher bei dem einen und eine anderen bei dem anderen anzusprechen. Das ist ja auch eine große Stärke des Modells.“
Top-Sharing: Eine Sache von Vertrauen und gesundem Menschenverstand
Im Falle des Pilot-Tandems von HAMBURG WASSER war es demnach weit weniger schwierig, ein Top-Tandem für einen Bereich mit 600 Mitarbeiter*innen und einer großen infrastrukturellen Verantwortung für zwei Millionen Haushalte in und um Hamburg zum Leben zu erwecken, als man zunächst annehmen würde. Wie sooft sind es eben auch hier nicht die Tools und Techniken, die über den Erfolg oder Misserfolg entscheiden, sondern die Haltung.
„Das hat vor allem etwas mit gesundem Menschenverstand zu tun. Mit der Wellenlänge füreinander. Und mit Vertrauen“, so Frauke Lucks. „Für mich ist es so: Wenn Cornelius eine Entscheidung trifft, dann ist die erst einmal für mich richtig. Manchmal hinterfrage ich die dann nochmal und brauche mehr Infos zur Entscheidungsfindung, aber nach außen und innen ist es wichtig, das Gefühl voneinander zu haben, dass man das Gleiche will. Solange man dieses Vertrauen ineinander hat, ist der Rest ein wenig drüber nachdenken und organisieren.“
Top-Sharing: Eine Maßnahme, für mehr Chancengleichheit
Verfolgt man die unternehmerische Strategie von HAMBURG WASSER und Statements der Geschäftsleitung aus den vergangenen Jahren, kann man erahnen, dass die Organisation verstanden hat, was Mitarbeiter*innen heute brauchen. Aktuell arbeiten rund 16 Prozent der Belegschaft in Teilzeitmodellen, davon sind über 6 Prozent Männer. Männliche Führungskräfte in Elternzeit sind längst keine Ausnahmen mehr und bis 2030 möchte das Unternehmen einen Anteil von Frauen in Führungspositionen von 50 Prozent erreichen. Schon jetzt sind Frauen in Führung bei HAMBUG WASSER keine Exotinnen mehr – und das, obwohl die Wasserwirtschaft lange als absolute Männerdomäne galt. Bereits heute sind über 19 Prozent der Führungskräfte bei HAMBURG WASSER Frauen – 50 Prozent mehr als in den Chefetagen der DAX-notierten Unternehmen.
„Das Thema Chancengleichheit hängt untrennbar mit der Unternehmens- und Führungskultur einer Organisation zusammen.”
Nathalie Leroy
Chancengleichheit ist eines der zentralen Unternehmensziele von HAMBURG WASSER und wird vor allem von der kaufmännischen Geschäftsführerin Nathalie Leroy in Interviews wiederkehrend betont. In einer offiziellen Stellungnahme beschreibt sie, wie schwierig es einerseits ist, Frauen für eine Männerdomäne wie die Wasserwirtschaft zu begeistern. Sie beschreibt aber andererseits auch, wie es gelingen kann: „Wer glaubt, das Problem allein durch Quoten zu lösen, irrt. Was wir benötigen, ist ein fundamentalerer Wandel. Frauen in Führungspositionen müssen genauso selbstverständlich sein wie Männer in Teilzeit.“ Und auch Arbeitszeit mit neuer Bedeutung zu füllen, sowie neue Führungsmodelle zu etablieren sind für Leroy Ansatzpunkte: „Statt einer Präsenzkultur brauchen wir eine Vertrauenskultur. Job-Sharing darf in Sachen Führung kein Tabu mehr sein.“
Dass weitere Top- und Job-Tandems mehr Frauen ins Unternehmen bringen würden, davon ist Frauke Lucks überzeugt. „Die Glaubwürdigkeit in Sachen Familienfreundlichkeit wird definitiv gefördert. Überhaupt wird das Unternehmen attraktiver für Mitarbeiter*innen. 700 neue Kräfte werden in den nächsten Jahren in der Hamburger Organisation benötigt, möglichst groß soll die Vielfalt sein.
Top-Sharing: Mehr Entspannung und leichtere Lebensorganisation
Eineinhalb Jahre Top-Tandem liegen inzwischen hinter Frauke Lucks und Cornelius Hünemeyer. Ihr Zwischenfazit fällt eindeutig aus: Sie bereuen nicht, den Schritt gegangen zu sein. Hünemeyer stellt vor allem im Bereich der Regeneration positive Effekte fest: „Ich bin schnell im Freizeit-Modus, weil ich die Arbeit in guten Händen weiß. Früher habe ich mich am Wochenende doch immer häufig mit beruflichen Gedanken getragen, weil ich ja wusste, dass in der Zwischenzeit nichts passiert.“ Jetzt sei die Erholung einfacher.
Seine Kollegin kann von ähnlichen Effekten berichten: „Ich bin deutlich entspannter, das nimmt mein Umfeld auch wahr“, beschreibt sie. „Die Lebensorganisation ist viel einfacher geworden. Und ich habe wieder viel mehr Freude daran, Menschen zu treffen. Früher wollte ich das zwar, aber es war auch immer irgendwie Stress, weil ich mit dem Kopf nicht ganz da war.
Jetzt kann ich das viel mehr genießen. Ich habe Zeit in Selbstreflexion gesteckt, habe eine Mediationsfortbildung gemacht, entdecke nochmal ganz andere Seiten. Das alles hätte ich nie gemacht, wenn ich Vollzeit gearbeitet hätte. Das ist toll, die Welt nochmal so für sich weiten zu können. Es ist ein Geschenk, für das ich wirklich dankbar bin.“