Körperliche Warnsignale werden oft ignoriert und es ist eine Herausforderung im Stress, auf sie zu hören. Doch wenn sich plötzlich ein kleiner Erdenbürger ankündigt, sieht das ganz anders aus. Warum eigentlich erst dann?
Judith ist 31 Jahr alt und arbeitet als Marketing Managerin in einem Unternehmen mit 200 Mitarbeitenden in Berlin. Sie liebt ihren Job und ist stolz auf ihre Karriere. Das Arbeitsumfeld, in dem sich Judith am wohlsten fühlt, gibt ihr Verantwortung in ihrer Rolle und lässt sie selbstbestimmt Entscheidungen treffen. Dann blüht sie regelrecht auf und setzt große Kräfte frei, um Projekte abzuschließen und ihnen das Sahnehäubchen aufzusetzen. Gerne steht sie dafür auch am Samstag vor dem gemeinsamen Frühstück mit ihrem Partner auf und setzt sich zwei Stunden an den Laptop. Es gibt ihr das Gefühl etwas geschafft zu haben und produktiv gewesen zu sein. Und wenn Sonntagabend nochmal ordentlich klar Schiff im E-Mail-Postfach gemacht wurde, dann startet die Woche für sie aufgeräumt und gut.
Wichtig hierbei ist aber für Judith, dass sie eigenständig handeln und entscheiden kann, wann sie viel arbeitet. Wenn das gerade in ihr Leben passt, am Wochenende keine großen Ausflüge anstehen oder sie sich nicht von der letzten durchfeierten Nacht erholen muss, gefällt es ihr, viel zu arbeiten. Problematisch wird es dann, wenn es vom Unternehmen erwartet wird oder sich Kolleg:innen gar an die Mehrarbeit gewöhnen und diese voraussetzen. Dann ist die Samstagmorgenschicht nämlich nicht befreiend, sondern eine Pflichtübung und die neue Woche beginnt müde und mit einem Druckgefühl auf der Brust. Dann hat Judith auch keinen Spaß an der Arbeit und ist schnell erschöpft, schlecht gelaunt und kann nicht mehr schlafen. Die Arbeit baut sich in ihre Träume ein, die morgendliche Runde um den Block vor dem Homeoffice fällt weg und an eine Mittagspause ist gar nicht zu denken.
Wenn der Druck zunimmt, nimmt das eigenständige Handeln ab
Zu Hause wird öfter gestritten, sogar der nicht ausgeräumte Geschirrspüler sorgt für Stress und der Zahnarztbesuch wird mal wieder aufgeschoben, weil einfach keine Zeit dafür ist. All das endet dann in der Regel in einer Mandelentzündung, das typische Zeichen von Judiths Körper, dass es zu viel war in den letzten Wochen und Monaten. Das war schon immer so und inzwischen weiß Judith immer besser, wie sie den stressigen Phasen entgegenwirken kann und wo sie sich einen Ausgleich schafft. Aber der Zyklus bleibt und Symptome von Stress und Krankheit ignoriert sie gekonnt, solange es geht. Schließlich will sie auf der Arbeit Anerkennung erfahren und ernst genommen werden.
Doch jetzt ist Judith schwanger und merkt, dass sich Stresssymptome nicht so leicht ignorieren lassen, wie das vorher der Fall war. Sie steht acht Wochen vor dem Mutterschutz und das Arbeitspensum ist gerade so hoch wie lange nicht mehr. Selbst aus dem Homeoffice wird es knapp mit der Energie. Die Mittagspause wird zwar nicht mehr übersprungen, aber ein hektisch eingenommenes Essen verursacht Bauchschmerzen und die ständige Anspannung führt zu einem harten Bauch, DEM Stresssymptom von Schwangeren. Judith will nicht die „Schwangeren-Karte“ ziehen und ihre Vorgesetze darauf aufmerksam machen, dass sie sich schonen muss. Aber sie ist sich auch dessen bewusst, dass nach ihrer Elternzeit keinen Dank dafür kommen wird, dass sie in der Schwangerschaft noch Überstunden geschoben hat. Dank dafür gab es sowieso noch nie, auf keinem Arbeitsplatz.
Sich der Verantwortung bewusst werden
Also wird sie sich ihrer Verantwortung bewusst und lässt sich ein Beschäftigungsverbot geben. Ab sofort arbeitet sie nur noch 4 Stunden am Tag. Das soll den Druck rausnehmen und ihr Zeit für Ruhe und Entspannung geben. Wer hätte gedacht, dass das so wichtig ist? Judith jedenfalls nicht. Die ersten paar Wochen sind noch holprig und sie versucht viel mehr den 8 Stundentag in 4 Stunden zu quetschen. Doch nach und nach schwinden die Aufgaben, es kommen wenige neue hinzu und auch die Chefin scheint verstanden zu haben, dass hier Rücksicht gefordert ist. Der Arbeitstag ist kürzer und dank der Rücksichtnahme von Kolleg:innen und Chefin auch entspannter.
Doch warum fängt Judith erst an auf ihren Körper zu hören, wenn sie eine Verantwortung für ein zweites Wesen hat? Warum hat sie nicht vorher die Verantwortung auf sich selbst aufzupassen ernst genommen? Schlafmangel, Angstzustände, schlechte Ernährung in stressigen Phasen… das alles kommt keiner Einweisung in die Psychiatrie oder einer langen Krankschreibung wegen Burn Out gleich, aber es sind Aspekte, von denen wir wissen, dass sie nicht zu einem gesunden Lebensstil gehören. Trotzdem übernehmen wir in Stresssituationen selten die Verantwortung für unsere physische und psychische Gesundheit und ziehen durch. Bis zum Wochenende, bis zum nächsten Urlaub, bis das Projekt abgeschlossen ist (und das nächste eigentlich schon wieder Deadline hat).
Welche Stressfaktoren gibt es bei Dir?
Lasst doch mal die Situationen in den letzten 6 Monaten Revue passieren, in denen ihr euch über einen längeren Zeitraum (länger als eine Woche) gestresst gefühlt habt.
- Was war der Grund dafür? Die Arbeitszeit oder das Klima auf der Arbeit?
- Hat sich die Situation aufgelöst oder verbessert?
- Wenn ja, warum? Was hat dazu beigetragen?
- Wenn nein, warum nicht?
- Wie könnt ihr in solchen Situationen aktiv gegensteuern, statt zu warten, dass sie sich auflöst?
Denn gegensteuern, darin sollten wir alle viel besser werden. Wie werden immer wieder in Situationen kommen, in denen unser (Arbeits-)Umfeld wenig Rücksicht auf unsere Bedürfnisse nimmt. Es gilt, einen nachhaltigen Weg zu finden damit umzugehen, damit wir auch noch Kraft für die Dinge außerhalb des Arbeitslebens haben.
Judith freut sich jetzt erst mal auf die Elternzeit. Wie sie anschließend 40 Stunden arbeiten und gleichzeitig der neuen Mutterrolle gerecht werden soll, weiß sie noch nicht. Aber darum muss sie sich jetzt zum Glück noch keine Sorgen machen. Kommt Zeit, kommt Rat.