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Die Falle schnappt zu: Frauen in Teilzeit

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„Teilzeit“ – bei diesem Wort bekomme ich inzwischen richtig schlechte Laune. Wo es auftaucht, sind Gender-Ungerechtigkeiten, Benachteiligungen und finanzielle Not nicht weit. Dabei bietet das Konzept von Teilzeit eigentlich eine große Chance für sämtliche Arbeitnehmer*innen, nur so viel Zeit mit Erwerbstätigkeit zu verbringen, wie es notwendig und/ oder gewünscht ist. In Wahrheit haben wir aber selten eine echte Wahl. Schon gar nicht, wenn wir Frauen sind.

Das Dilemma beginnt mit einem Imageschaden. Während Menschen, die in Vollzeit arbeiten, als leistungsfähig, ambitioniert und Norm erfüllend gelten, erscheinen in Teilzeit arbeitende Beschäftigte irgendwie… unvollständig. Als würden die fehlenden Stunden automatisch mit weniger Kompetenz, weniger Erfolgswillen und weniger Zuverlässigkeit einhergehen. Dabei bedeutet Teilzeit einfach nur, dass ein*e Angestellte*r weniger Wochenstunden erbringt als die im jeweiligen Unternehmen definierte Vollzeit. Teilzeitjobs können also fünf Stunden umfassen oder auch 38,5. Im letztgenannten Falle spricht der Arbeitsmarkt von „vollzeitnaher Teilzeit“. Was gleich weniger unvollständig, irgendwie verzeihbarer klingt.

Büropräsenz als Erfolgsfaktor: Eine Rechnung, die ohne Mettbrötchen gemacht ist

Die Unterscheidung zwischen Voll- und Teilzeit, sie macht eine Zwei-Klassen-Gesellschaft auf, die jedoch nur eins im Blick hat: Büropräsenz. Demnach sind Erfolg und Leistung untrennbar mit der Wochenstundenzahl verbunden. Ein für mich stets irritierender Zusammenhang –  habe ich in meiner beruflichen Laufbahn doch durchaus einige Menschen dabei beobachtet, wie sie ihre 40-Stunden-Woche überwiegend mit dem Beseitigen von selbstverursachtem Informations-Chaos oder in der Teeküche mit Mettbrötchen in der Hand verbracht haben. Gleichzeitig sind mir 20-Stunden-Kolleg*innen begegnet, auf die ich mich blind verlassen und deren Gedanken ich immer schnell verstanden habe. 

Nicht falsch verstehen: Mettbrötchen mit Kolleg*innen zu essen oder andere Kopf freipustende Momente in den Arbeitstag zu integrieren, ist wichtig. Total wichtig sogar, um nicht auszubrennen und eine gute Arbeitsatmosphäre zu bewahren. 

Umso gravierender ist es ja auch, dass sich Teilzeitkräfte diesen Müßiggang in der Regel verkneifen (müssen) – aufgrund der gesetzlichen Regelung, dass es erst bei einer Arbeitszeit von über sechs Stunden einen Pausenanspruch gibt. Aber auch, weil das schlechte Gewissen, sowieso „nur“ einige Stunden am Tag bzw. nicht alle Tage in der Woche vor Ort zu sein, groß und die tickende Uhr in Richtung Dienstschluss nicht zu überhören ist. Ich schreibe bewusst „Dienstschluss“, denn für die die meisten Teilzeitkräfte ist am Ende des Jobtages noch lange nicht Feierabend. Oft warten Care-Arbeit oder andere Verbindlichkeiten.

Männer gehen selbstbestimmt in Teilzeit. Frauen nicht.

Teilzeitkräfte sind in den meisten Fällen Frauen, in den allermeisten Mütter. 29,2 Prozent aller Erwerbstätigen in Deutschland arbeiten in Teilzeit – nur jeder fünfte davon ist ein Mann. Blickt man auf Frauen, so gehen 76 Prozent von ihnen einer Erwerbstätigkeit nach, ungefähr jede zweite von ihnen arbeitet Vollzeit. Sobald aus einer berufstätigen Frau jedoch eine berufstätige Mutter wird, sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass sie weiterhin Vollzeit arbeitet erheblich: 72,6 Prozent der erwerbstätigen Mütter  mit Kindern unter 6 Jahren hatten 2019 einen Teilzeitjob. Bei den Vätern sind es 6,9 Prozent.https://www.instagram.com/p/CEGrSxhqkqV/

Während die Gründe, Stunden zu reduzieren, bei Frauen in der Regel fremdbestimmt sind, wählen Männer diese Option fast immer freiwillig. Persönliche oder familiäre Pflichten sind nur für jeden zehnten Mann ein Motiv, Vollzeit gegen Teilzeit zu tauschen. Der häufigste Grund bei ihnen: die Teilnahme an Aus- und Weiterbildungen. (Quelle mit weiteren spannenden Fakten: Demographie-Portal)

In Euros formuliert: Männer nutzen die Teilzeit, um ihrem beruflichen Werdegang einen zusätzlichen Schub zu geben und erhöhen damit ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt und ihre finanzielle Absicherung. Frauen mit Kindern oder Pflegeaufgaben hingegen verringern ihre Chancen, verantwortliche Positionen weiterführen bzw. finden zu können, bekommen entsprechend weniger Lohn und haben außerhalb des Jobs keine Möglichkeit, diese Delle im Lebenslauf und in den Rentenbeiträgen auszugleichen.

Der Gender Pay Gap steigt nicht durch Zufall ab dem Alter von 30 Jahren, dem Zeitpunkt, wo aus vielen Paaren eine Familie wird, stark an. Die in einigen Branchen mit Teilzeit einhergehenden geringeren Stundenlöhne und die fehlenden Aufstiegschancen in Teilzeit tragen erheblich bei.

Angst vor Altersarmut – ein gefundenes Fressen für Marketingabteilungen

Diese Situation ist alles andere als ein Geheimnis. Es gibt sogar Organisationen, für die sie als Ausgangspunkt für Marketingaktivitäten dienen. Die Sparkasse Bad Kissingen schrieb seinen Kundinnen jüngst folgende Zeilen:

„Reicht die Rente für einen unbeschwerten Ruhestand? Gerade Frauen sollten sich mit dieser Frage befassen. Denn statistisch betrachtet leben sie länger als Männer, brauchen also mehr Geld. Doch sie haben meist geringere Rentenansprüche, sei es wegen Kinderzeiten oder Teilzeitjobs. Aber auch, weil sie heute weniger verdienen als Männer in gleicher Position. Am besten machen Sie jetzt Ihren persönlichen Vorsorge-Check! Wir beraten Sie individuell über Ihre passenden Vorsorgelösungen. Gemeinsam sorgen wir dafür, dass Sie Ihr langes Leben mit mehr Freiheit genießen können.“

Das muss man erst mal sacken lassen. Was vermutlich als serviceorientierter Reminder gedacht ist, feuert die berechtigte Angst von Frauen vor Altersarmut noch an. Hey Sparkasse Bad Kissingen und alle Organisationen, die das gesellschaftliche Leben mitgestalten, ein Vorschlag: Wie wäre es denn, wenn ihr auf solche Werbeschreiben verzichtet und die Zeit lieber nutzt, Euch für eine Beseitigung des Gender Pay Gaps und für mehr Männer in Care-Arbeit stark zu machen, damit Frauen schon vor der Rente ihr Leben ohne Angst vor der Zukunft genießen können?

Mental Load: Rentenplanung trifft Geschenkpapier trifft Dienstplan

Das oben zitierte Schreiben ist überdies ein gutes Beispiel dafür, wie der tägliche Mental Load vor allem für Frauen nie zu enden scheint. ”Mental was?” Mental Load! Ein Begriff, der auf den Punkt bringt, dass das Mittwochnachmittags-ToDo “Kind zum Kindergeburtstag bringen” keines ist, das am jeweiligen Mittwochnachmittag binnen einer halben Stunde erledigt ist. Stattdessen ist es verbunden mit einem privaten Projektmanagement, das damit beginnt, herauszufinden, was das Geburtstagskind sich wünscht, um diesen Wunsch mit einem entsprechenden Kauf dann zu erfüllen. Wohl dem, der*die sofort weiß, wo es vorrätig ist bzw. wie es rechtzeitig zu bestellen ist. Im besten Fall wird das Geschenk im Laden bereits verpackt, im schlechtesten steht man am Mittwochmittag nach der Arbeit mit dem eigenen vorfreudigen Kind an der Seite im Abstellraum und stellt fest, das dort kein einziges Stück buntes Papier zum Verpacken mehr vorrätig ist. Und man die Gummistiefel sowie die Matschhose, die für die verregnete Schatzsuche des heutigen Kindergeburtstags gebraucht werden, leider in der Kita vergessen hat. 

Ja, Zeitungspapier, ein nicht abgesprochenes Geschenk und nasse Füße haben noch keinen Kindergeburtstag gesprengt, alles kann auch in solch einer Situation noch gut werden. Das Beispiel soll aber eines verdeutlichen: Die Köpfe von Menschen, die sowohl für eine Erwerbstätigkeit als auch hauptverantwortlich für familiäre Care-Arbeit zuständig sind – also von einer Reihe der Teilzeitkräften – jonglieren den ganzen Tag kleine und große ToDos. Wer Interesse hat, mehr über Mental Load zu erfahren, dem*der empfehle ich übrigens eindringlich das gleichnamige Buch von Patricia Cammerata. Es ist nicht ironisch gemeint, wenn ich schreibe, dass dieser Titel durchaus als Weiterbildungslektüre für Führungskräfte gelten sollte. Oder ein wertvolles Geschenk an Mitarbeiter*innen (vor allem die männlichen) sein könnte, sobald von diesen über eine Schwangerschaft berichtet oder der Antrag auf Elternzeit vorgelegt wird.

Wer sowohl im Job als auch im Privaten zuverlässig unterwegs sein möchte, hat im kopfeigenen Browser stets unzählige Tabs offen. In einigenwirbeln Überlegungen zu den beruflichen Projekten, zu notwendigen Absprachen und noch zu vereinbarenden Terminen umher, in den anderen die Essensplanung, der Einkaufszettel, das fehlende Rezept für Schwiegermutters Gehhilfe – und der überfällige Termin bei der Bank, um endlich die Rentenplanung zu optimieren.

80% Gewinn, nicht 20 % Verlust

Zu Beginn dieses Artikels habe ich die Zwei-Klassen-Gesellschaft bemängelt, die unsere Arbeitswelt unausgesprochen zwischen Voll- und Teilzeitkräften aufmacht. Vielleicht entgegnet Ihr als Leser*innen mir nun empört, dass ich es nun selber tue. Indem ich arme  geplagte Teilzeitkräfte und Mettbrötchen essende, im Haushalt abends keinen Finger krummmachende Vollzeitkräfte gegenüberstelle. Diesen Dualismus gibt es natürlich nicht!

Ebensowenig ist es allein die Verantwortung von Arbeitgeber*innen, Mütter von Mental Load zu befreien und ihnen täglich das Gefühl zu vermitteln, dass man sie als Arbeitskraft respektiert. Das sind tief verwurzelte Probleme, die auch innerfamiliär, in der Politik und mit sich selbst geklärt werden müssen.

Die Arbeitswelt ist jedoch ein großer Teil unseres Lebens, der Vorstellungen und Ansprüche prägt. Unternehmen können daher mit gutem Beispiel voran gehen. Indem sie das Image von Teilzeit positiv verändern (darüber habe ich im Artikel “Zwölf Tipps, wie Teilzeit salonfähig wird” geschrieben) und Empathie für die Situation für Teilzeitkräfte erhöhen. Um es mit den Worten einer nine to life-Followerin zu sagen: “Ich wünsche mir, dass man mich als 80% Gewinn anstatt 20 % Verlust ansehen würde.”


Vor einiger Zeit habe ich mit unserem  Teammitglied Mariele Müller in einem IGTV ausführlich über Teilzeit sinniert und diskutiert. Hier das aufgezeichnete Video:

Jugendherbergen: Zurück in die eigenverantwortliche Zukunft

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So viele Unbekannte, wie in den letzten Monaten, hatten Führungskräfte nie zuvor in ihrer Unternehmensgleichung. „Wo stehen wir gerade und was heißt das für mein Team?“ – diesen Status quo in Ruhe zu definieren und ihn vorerst als gültig anzusehen, war nach Beginn der Corona-Pandemie nicht mehr möglich. Situationen änderten sich wochenlang in rasender Geschwindigkeit. Welchen Einfluss hat das auf die Menschen genommen, von denen Mitarbeiter*innen sich im Krisenfall verlässliche Informationen holen? Wie gehen Führungskräfte mit dem gestiegenen Bedarf an Orientierung um und wie hat sich Covid19 auf die interne Kommunikation ausgewirkt? Ich habe Antworten bei einem dezentral organisierten Tourismusplayer gesucht: bei den Jugendherbergen im Nordwesten.

Es hätte ein vergleichsweise entspanntes Jahr 2020 werden können für die Jugendherbergen im Nordwesten. Nach tempo- und arbeitsreichen Jahren, in denen der DJH-Landesverband mit 26 Standorten und rund 650 Mitarbeiter*innen einige Entwicklungen angestoßen hatte, wurden mehr und mehr positive Auswirkungen sichtbar: Übernachtungszahlen stiegen, die Suche nach auf dem Arbeitsmarkt schwer zu findenden Fachkräften klappte schneller, Ziele der Nachhaltigkeits- und Gemeinwohlstrategie wurden erreicht, innovative Klassenfahrtprogramme etabliert, Umbau- und Sanierungsprojekte erfolgreich abgeschlossen. Image und wirtschaftliche Situation? Richtig gut!

„Der Wind traf auf geöffnete Segel und unser Schiff nahm gerade ordentlich Fahrt auf“, fasst Thorsten Richter, Geschäftsführer der Jugendherbergen im Nordwesten, den status quo zum Jahreswechsel 2019/20 bildhaft zusammen – und mit solchen selbstbewussten Aussagen geht der 55-jährige in der Regel sparsam um. Die Corona-Pandemie und die bundesweite Schließung aller Jugendherbergen am 17. März 2020 waren für ihn und seine Mitarbeiter*innen daher „ein Vollcrash“. 

Krisenerprobtes Management 

Dass eine Krise unbekannten Maßes bevorstehen würde, wussten Richter und seine Führungskräften schon am 20. Februar. Dass es genau dieser Tag war, darüber geben die Protokolle des unmittelbar einberufenen Krisenstabs eindeutig Auskunft. Dieses Team war – und das stellte sich schnell als Segen heraus – bereits krisenerprobt. „Bereits 2016 hatten wir ein professionelles Krisenmanagement implementiert“, berichtet Richter. Zwei fiktive Krisenfälle haben sie seitdem durchgespielt – mit allem Zipp und Zapp. „Unsere Geschäftsstelle in Bremen, in der unter anderem die Bereiche Marketing, Controlling, Qualitätsmanagement und Buchhaltung ansässig sind, ist in diesen konstruierten Fällen mehrere Tage tatsächlich in den Krisenmodus gegangen. Von Arbeitszeiten über Telefonweiterleitungen bis hin zu Meetings haben wir alles realitätsgetreu und unter Anleitung unseres externen Beratungsteams abgewickelt.“ 

Ein Zeit- und Finanzinvest, der sich schon nach einem Brand in einer Jugendherberge 2017 auszahlte – und in Corona-Zeiten wieder für Stabilität und Aktionismus in die richtige Richtung sorgte. Gerade beim Geschäftsführer. „Ich mache den Job jetzt seit knapp 25 Jahren und hatte Ende Februar natürlich neben all den organisatorischen Herausforderungen auch mit der schmerzenden Erkenntnis zu tun, dass alles, was wir aufgebaut haben, auf dem Spiel steht.“ Dass sich die Führungsriege durch das funktionierende Krisenmanagement auf der operativen Arbeitsebene schnell sortiert konnte, habe in der ersten Chaosphase große Sicherheit gegeben. „Man darf nicht unterschätzen, wie hilfreich es ist, sofort zu wissen, welche Menschen man an den Tisch holen muss, wie die Kommunikation gesteuert ist und wer der Kreis der Betroffenen ist“, so Richter.

Ξ Eigeninitiative? Darüber hat sich Kim Gedanken gemacht und festgestellt: dafür braucht es auch Selbstreflexion.

Das bestätigt auch Birgit Hägemann, Leiterin der Programmentwicklung bei den Jugendherbergen im Nordwesten. „Was wir außerdem durch das Krisenmanagement gelernt haben: uns schnell vor die Lage zu setzen. Wir wissen, dass wir pro-aktiv etwas tun können.“ Hägemann gehörte zu den Mitarbeiter*innen, die dafür nicht erst auf grünes Licht vom Geschäftsführer gewartet, sondern schnell und eigeninitiativ an konstruktiven Lösungen gearbeitet haben. 

“Unternehmenswerte wirkten wie Scheinwerfer im Nebel”

Birgit Hägemann

Ohne beispielsweise zu wissen, ob Klassenfahrten in 2020 überhaupt noch einmal stattfinden würden, hat sie sich hingesetzt und Klassenfahrten konzipiert, die an Corona angepasst sind und den bisherigen Qualitätsstandards der für die Inhalte entsprechen. Mit zentralen Partner*innen hat sie konkreten Details (Wie viele Schutzmasken haben wir eigentlich in unseren Erste-Hilfe-Koffern?) und große gesellschaftliche Fragen („Welche Kompetenzen müssen wir bei Kindern & Jugendlichen in den kommenden Jahren stärken, damit sie besser auf Krisen vorbereitet sind?“) abgeklopft. Eine Landingpage für Lehrer*innen ins Netz gestellt, die  sich über corona-konforme Klassenfahrten informieren wollen. Ihre Arbeitsweise bei all dem: genauso selbstbestimmt wie vor der Krise. 

Digitale Zusammenarbeit

„Ich war natürlich im Vergleich zu Mitarbeiter*innen außerhalb der Geschäftsstelle in einer privilegierten Situation. Von Beginn der Pandemie an saß ich mindestens dreimal in der Woche mit der Geschäftsleitung und anderen Führungskräften digital zusammen. 

Ξ Digitale Zusammenarbeit aus dem Home Office: Was es arbeitsrechtlich zu beachten gibt, hat Mareike zusammengefasst.

Wir haben das große Glück, dass Thorsten Richter als Geschäftsführer Informationen nicht in kleinen Scheibchen vermittelt, sondern immer gleich alles auf den Tisch legt – auch, wenn es schlechte Nachrichten gibt. Das ist nicht immer und nicht für jede*n sofort leicht verdaulich, aber ich persönlich kann so sehr gut arbeiten. Ich weiß immer wo ich stehe, worum es gerade geht und bin so schnell in der Lage, selbstbestimmt zu schauen, welchen Beitrag mein Team und ich leisten könnten.“

Ein sicheres Gefühl habe ihr zudem das feste Wertgefüge gegeben, das sich vor allem in den vergangenen zwei Jahren innerhalb der Organisation gefestigt hätte. Nicht zufällig, sondern im Rahmen eines gezielten Personalentwicklungsprozess, den Thorsten Richter prägnant zusammenfasst: „Wir wollen ein Arbeitgeber sein, der dem Markenkern Gemeinschaft erleben auch intern gerecht wird“ 2018 gründete er daher eine Arbeitsgruppe, stellte zusätzliches Budget für interne Maßnahmen bereit und zog eine Fachfrau für Veränderungsmanagement hinzu. Sie etablierte unter anderem profile dynamics-Methoden – ein Ansatz, der realisiert, was sich Arbeitnehmer*innen von heute wünschen: eine Unternehmenskultur, die von Empathie, Selbstwirksamkeit und Teilhabe geprägt ist. 

Klare Unternehmenswerte

„In einer so undurchsichtigen Chaossituation, wie wir sie zu Beginn der Pandemie erlebt haben, sind gemeinsame Grundwerte ein unfassbarer Wert“, so Programmentwicklerin Hägemann. „Zusammenhalt, Selbstverantwortung und Zuversicht – das sind unsere. Sie wirkten wie Scheinwerfer durch den Nebel, der allen wieder zeigt, worauf es sich zu konzentrieren gilt.“ 

Tatsächlich sei ihm eine Kultur der Selbstverantwortung enorm wichtig, so Thorsten Richter, „Ich würde behaupten, dass unsere Unternehmenskultur von der Überzeugung geprägt ist, dass die Ergebnisse besser werden, wenn Mitarbeiter*innen möglichst viel und früh einbezogen werden“, so der Geschäftsführer. Eine der zentralen Führungsqualitäten für ihn: vernetzt denken zu können. „Man muss immer schnell erkennen, wer von einer Entscheidung betroffen ist und was sie für diejenigen bedeutet, die sie am Ende umsetzen müssen. Und diesen Personenkreis wollen wir bestmöglich einbeziehen und zum eigenverantwortlichen Entwickeln von Lösungen animieren. Nicht immer können wir alle Vorschläge berücksichtigen, aber sie sollen gehört und so oft wie möglich berücksichtigt werden.“

„Ergebnisse werden besser, wenn wir möglichst viele Mitarbeiter*innen einbeziehen“ 

Thorsten Richter

Diesen Führungsstil kann der Geschäftsführer seit der Pandemie allerdings nur bedingt aufrechterhalten. Das Tempo der Entwicklung einerseits,  Kurzarbeit und Home Office andererseits erschweren in der aktuellen Krise, viele verschiedene Perspektiven in die Entscheidungsprozesse einzubeziehen. 

Häufig wird dies von den Mitarbeiterinnen allerdings auch gar nicht mehr in dem Maße gewünscht bzw. ist von ihnen gar nicht mehr in dem Umfang leistbar, wie es bislang üblich war. Im Gegenteil: „Ich spürte schnell, wie sehr sich die Belegschaft in dieser Krisenzeit wieder auf mich als Geschäftsführer fokussiert“, schildert Richter. Entsprechend ergriff er Maßnahmen, um seinen Mitarbeiterinnen die Orientierung zu geben, die sie sich wünschen.Allein von Ende Februar bis Anfang Juni verschickte er über hundert Infomails, außerdem schaltete er sich auf Wunsch digital zu Teammeetings der einzelnen Jugendherbergen hinzu.

Interne Kommunikation

Für Katja Garbe, Hausleiterin der Jugendherberge Wangerooge, sind die Infomails sind in den vergangenen Monaten ein wichtiger Kommunikations-Bestandteil geworden, um gemeinsam mit ihren Mitarbeiter*innen gut gewappnet durch die Krise zu kommen. „Ganz am Anfang sind unfassbar viele Informationen geflossen“, erinnert sich Garbe. „Nicht nur innerhalb des Unternehmens, sondern überall. Ich empfand es als unheimlich schwierig, alles zu erfassen und zu filtern. Die Frage, wie viele Informationen mein Team braucht und wie viele vielleicht auch zu viele sind, beschäftigte mich sehr.“ 

Auch die Informationsweitergabe bereitete Katja Garbe zunächst Schwierigkeiten. Sie wohnte auch während der Schließung in der Jugendherberge, zusammen mit ein paar Teammitgliedern. Andere Mitarbeiter*innen waren hingegen auf dem Festland. „So entstanden automatisch unterschiedliche Kommunikationsdichten. Wenn man einigen Kolleg*innen täglich begegnet, andere hingegen vorwiegend per Mail erreicht, so muss man ziemlich gut aufpassen, dass wirklich alle mit den relevanten Informationen versorgt sind und niemand ohne böse Absicht vergessen wird. Dementsprechend hilfreich sind von der Geschäftsleitung systematisch aufbereitete und regelmäßig verschickte Mails. Ich kann mich zumindest in diesem Punkt mit dem guten Gefühl zurücklehnen, dass wir die detaillierten Infos bekommen, die wichtig für uns sind.“ 

“Die Kommunikation unter uns Hausleiter*innen ist in dieser Zeit deutlich persönlicher und näher geworden”

Katja Garbe

Was Katja Garbe in Coronazeiten ebenfalls mehr denn je zu schätzen wusste: die Chat-Gruppe mit anderen Hausleiter*innen über einen Messengerdienst. Ein Kommunikationskanal, den es noch gar nicht so lange gibt und der ein Ergebnis aus den Maßnahmen im Bereich Personalentwicklung ist, die vor gut zwei Jahren angestoßen wurden. „Die Kommunikation unter uns Hausleiter*innen ist in dieser Zeit deutlich persönlicher und näher geworden, die Messengerkommunikation gibt das sichtbar wieder“, beschreibt Garbe. Die kleine konkrete Veränderung hatte eine große Wirkung in der Krise. „Wir konnten uns auf diesem Wege natürlich sehr schnell über die Lage austauschen.“

Ein anderes neues Kommunikationsformat, das im vergangenen Jahr startete, hätte hingegen erst einmal hinten angestellt werden müssen, bedauert Katja Garbe. „Zusätzlich zu den Budgetgesprächen, die zwischen uns Hausleiter*innen und der Geschäftsführung zweimal im Jahr stattfinden, haben im vergangenen Jahr noch Zwiegespräche zwischen Hausleiter*innen und Geschäftsführer begonnen, in denen eben nicht über Zahlen und Fakten gesprochen wird, sondern beispielsweise darüber, wie es uns geht und welche Erwartung wir aneinander haben.“ Für die Hausleiterin eine wertvolle Neuerung: „Ich brauche solche gesetzte Termine, ich bin nicht der Typ, der solche Gespräche selbst sucht. Ich hoffe daher, dass dieses Format bald weitergeführt werden kann.“

Ξ Gesetzte Termine für Mitarbeiter*innen: Sophie erklärt, warum es die genau jetzt braucht.

Zurück zur Eigenverantwortung

Wie es in den kommenden Monaten weitergeht, das weiß niemand bei den Jugendherbergen im Nordwesten so genau – die Lage ist weiterhin existenzbedrohend. Doch den Kopf steckt niemand in den Sand. Katja Garbe und ihr Team widmen sich derzeit noch mit voller Energie ihren Sommerferiengästen, bevor es ab Mitte September in der Jugendherberge Wangerooge mangels Klassenfahrten wieder ruhiger wird. 

Birgit Hägemann sitzt währenddessen wie gewohnt an der Programmentwicklung für die nächsten Monate und Jahre.  Getragen wird sie dabei von einer motivierenden Erkenntnis: „Corona hat mir persönlich einmal mehr gezeigt, dass wir als Unternehmen einen guten Zusammenhalt haben. Es ist ein großer Gewinn zu erleben, wie resilient wir sind. Dass wir in unserer Unternehmenskultur Stärken verankert haben, die selbst einer so großen Krise standhalten.“ 

Und der Geschäftsführer? „Eine meiner Kernaufgaben in der nächsten Zeit wird sein, die Vernetzung nach außen zu verstärken, um zu verstehen, was mit unserem Markt und unserer Gesellschaft passiert“, so Geschäftsführer Richter. „Außerdem möchte ich den auf mich gerichteten Fokus baldmöglichst wieder auf unsere kooperative, eigenverantwortliche Arbeitsweise zurücklenken. 

Ξ Worauf fokussieren sich Mitarbeiter*innen in agile Unternehmen eigentlich während einer Krise? Vera hat sich in einem holakratischen Unternehmen umgehört

Meine grundsätzliche Überzeugung deckt sich mit den Erfahrungen der vergangenen Jahre: Top down-Entscheidungen scheinen zwar in der jetzigen Situation schneller voranzugehen, aber die Umsetzung kann sehr fragil und stockend sein.“ 

Natürlich koste es auch Zeit, Eigenverantwortung in eine Unternehmenskultur zu implementieren, gibt er zu. „Aber sind diese Prozesse erst einmal erprobt und erlernt, nehmen sie enorm an Geschwindigkeit und an Kraft zu. Genau dorthin möchte ich auch nach der Krise zurück.“


Zum Nachdenken und Nachmachen:

  • Wertvoller Invest: Die Jugendherbergen im Nordwesten hatten bereits vor der Krise ihre Unternehmenskultur und ihre Personalentwicklung deutlicher auf den Unternehmensslogan „Gemeinschaft erleben“ ausgerichtet. Im Corona-Chaos gaben das dadurch gefestigte, gemeinsame Wertesystem sowie erprobte Kommunikationsabläufe Sicherheit und Orientierung.
  • Professionelle Beziehungsgespräche: Um eine kontinuierliche Entwicklung sicherzustellen, werden Erwartungen mit Führungskräften auf zwei Ebenen rückgekoppelt: Auf der Fachebene (Budgetgespräche) und auf der Beziehungsebene (Zwiegespräche).
  • Frühzeitige Einbindung: In Planungen werden möglichst viele der MitarbeiterInnen einbezogen, die später an der Umsetzung beteiligt sein werden. Das sichert sowohl Perspektivenvielfalt als auch die Motivation, konstruktiv mitzutun.
  • Erzählen, was zählt: Vorgefilterte, von der Geschäftsführung aktiv und sehr zeitnah ins Team gegeben Informationen, ermöglichen in Krisen vernetztes Denken und eine Selbsteinschätzung der Situation.
  • Kollegialer Austausch: Die Kommunikation in Peergroups bietet Möglichkeiten, sich schnell Hilfestellung und/oder Feedback zu organisieren.  

Der ideale Zeitpunkt für Feedback-Gespräche 2020? Jetzt!

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Wenn die Budgetplanung fürs kommenden Jahr geschafft ist, steht in vielen Organisationen eine andere Jahresend-Tradition auf dem Programm: Die jährlichen Gespräche mit den Mitarbeiter*innen. 2020 sollte mit dieser Tradition nicht bis Dezember gewartet werden. Warum? Das beantworte ich im Folgenden. Und ein paar Tipps für die Durchführung dieser Gespräche in Zeiten von Corona habe ich auch zusammengefasst.

Mit Mitarbeiter*innen-Gesprächen verhält es sich häufig so: Sie werden geführt. Immerhin, denn Rückkopplung und Anerkennung sind zentrale Aufgaben einer Führungskraft. Nicht zuletzt, um die Ziele der Abteilung zu sichern und einen Beitrag zur Unternehmensentwicklung zu leisten. Jedoch verschwindet das Protokoll zum Gespräch meist in der Personalakte und wird erst ein Jahr später wieder herausgeholt. In der Zwischenzeit bleiben Mitarbeitende mit den Zielen – wenn überhaupt konkrete gesteckt wurden –  allein. Keine gute Sache, wenn man bedenkt, dass sich geschäftliche Prioritäten und Strategien im Unternehmen im Laufe eines Jahres ebenso ändern können wie private Themen im Leben von Mitarbeiter*innen. Corona hat das eindrucksvoll gezeigt. 

Finden doch Zwischenevaluierungen statt, so konzentrieren sie sich häufig allein auf messbare Ziele. Andere Aspekte wie Entwicklungsmöglichkeiten oder auch das Beziehungs- und Erwartungsmanagement bleiben hingegen oft auf der Strecke. 

“Nur wer redet, kann gehört werden”

Blicken wir  auf das besondere Szenario, mit dem wir in diesem Jahr konfrontiert sind. Was passiert, wenn sich Arbeitnehmende jetzt, nach turbulenten unsicheren Monaten trauen, einen Blick auf ihre Jahresziele zu werfen? Was, wenn sie feststellen, dass sie diese nicht nur noch nicht erfüllt haben, sondern überhaupt nicht wussten, wie sie das hätten in Corona-Zeiten in ihre alltägliche Arbeit überhaupt hätten schaffen sollen? 

Die wenigsten werden dies mit ihrer Führungskraft besprechen, denn niedrige Leistung thematisiert niemand gern von sich aus. Naheliegender erscheint es da, bis zum nächsten Mitarbeiter*innen-Gespräch den Kopf in den Sand zu stecken und zu hoffen, dass wegen der weltweiten Pandemie schon ein Auge zugedrückt wird. 

Gut ist das nicht. Denn nur wer redet, kann gehört werden. Daher sind Führungskräfte 2020 mehr denn je verantwortlich dafür, den Dialog mit ihren Mitarbeitenden einzuleiten. Und zwar genau jetzt. Nur so werden die Feedbackgespräche 2020 nicht zu einem Spießrutenlauf, sondern zu einer realistischen Einschätzung der Situation. 

Feedbackgespräche in Zeiten von Corona: Tipps zur Vorbereitung und Durchführung

  • Findet zeitnah Termine für Gespräche mit Euren Mitarbeitenden. Vielleicht muss dieses digital stattfinden. In jedem Fall muss dieses Jahr der Ort des Treffen gründlich abgewogen werden.
  • Eventuell gibt es in Eurer Organisation bereits Leitfäden, die nun angepasst werden müssen. Ihr habt als Führungskraft freie Hand? Dann müsst Ihr aktiv überlegen, welche Strategie zu eurem Stil und eurem Team passt.
  • Macht Euch bewusst, dass es in diesem Jahr besonders wichtig ist, nicht nur über Zahlen, sondern auch über das persönliche Empfinden der Krisenzeit zu sprechen.
  • Formuliert in der Einladung, worum es im Gespräch – abweichend zu den Vorjahren – konkret gehen soll. Da sich der Fokus des Unternehmens durch die Pandemie verschoben haben kann, geht es nicht unbedingt darum die gesteckten Ziele zu erreichen, sondern diese flexibel an die neue Situation anzupassen. 

Hierzu zwei Beispiele:

Aufgrund geringerer Umsätze konnte ein bestimmtes Projekt nicht durchgeführt werden. Das Teammitglied hat sich stattdessen auf das Tagesgeschäft konzentriert. Wo steht das Projekt in der aktuellen Situation und wie kann das Teammitglied in den letzten Monates des Jahres trotzdem noch einen Erfolg erzielen, ohne das Projekt komplett  umsetzen zu müssen? Hier wäre es hilfreich, Teilerfolge zu definieren und zu klären, wie sie erreicht werden können.

Aufgrund der privaten Situation war es dem Teammitglied nicht möglich, das anstehende Projekt zu priorisieren, sodass es aktuell nicht im Zeitplan liegt. Das Projekt ist aber dennoch relevant für das Unternehmen. Wie kann umdisponiert werden, sodass das Teammitglied zwar trotzdem noch seinen Beitrag leisten, aber nicht jetzt die verpasste Zeit aus der ersten Jahreshälfte doppelt erbringen muss?

  • Macht Euch bewusst, dass Eure Mitarbeitenden unter unterschiedlichen Voraussetzungen arbeiten. Ob die Betreuung von Kindern, die Pflege von Angehörigen oder des eigenen Ichs, das unter der Isolation während der Pandemie leidet – es gibt verschiedene Gründe, warum in diesem Jahr andere Maßstäbe gelten und nicht jede*r 100% geben konnte und können wird.
  • Reflektiert im Gespräch noch einmal die Erfahrungen der ersten Corona-Welle, um ggf. bei einem zweiten Lockdown schnell und gut reagieren zu können. Aufgrund steigender Fallzahlen wird Home Office in vielen Unternehmen weiter bestehen bleiben. Besprecht gemeinsam mit den Mitarbeitenden, wie sie sich sicher fühlen und wie ihr im Falle einer zweiten Welle mit Lockdown vorbereitet sein könnt.

Tempowechsel ist auch eine Strategie

Euer Ziel sollte es – wie immer – sein, Mitarbeitende zu unterstützen und die wirtschaftlichen Erfolge des Unternehmens nachhaltig zu erzielen. Dies kann manchmal eben auch über einen Tempowechsel passieren. Unterstützung ist im Übrigen eine der Hauptaufgaben einer Führungskraft und kann von Mitarbeitenden aus gutem Grund eingefordert werden. Denn Unterstützung mündet in Mitarbeiter*innen-Entwicklung und an dieser sollte jedes nachhaltig agierende Unternehmen Interesse haben. 


Unser Magazin funktioniert nach einem festen Prinzip: Jede*r feste Autor*in greift einen Aspekt des aktuellen Leitartikels auf, den er*sie gern ausführlicher betrachten möchte. Sophie ist in unserem Leitartikel “Zurück in die selbstbestimmte Zukunft” hellhörig geworden, als eine Mitarbeiterin schilderte, wie wichtig es für sie ist, dass Zwiegespräche von ihrem Vorgesetzten eingeleitet werden: „Ich brauche solche gesetzten Termine, ich bin nicht der Typ, der solche Gespräche selbst sucht. Ich hoffe daher, dass dieses Format bald weitergeführt werden kann.“ ((Katja Garbe, Jugendherbergen im Nordwesten)

Home Office nach Corona: Ein arbeitsrechtlicher Überblick

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Aktuell stellen sich Arbeitgeber*innen die Frage, wie es in ihren Betrieben nach Corona mit dem Home Office weitergehen soll. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, verbindliche Regelungen zu treffen. Dabei müssen Arbeitgeber*innen, die ihren Mitarbeiter*innen auch nach der Corona-Krise ermöglichen wollen, ihre Arbeit außerhalb des Büros zu erbringen, einiges beachten. Das Wichtigste wird im Folgenden zusammengefasst.

Für viele Arbeitnehmer*innen ist der über Jahre gelebte status quo “Ich geh ins Büro” im Frühjahr durch einen neuen ersetzt worden: “Ich arbeite von zuhause”. Plötzlich wimmelte es im Netz und in Newslettern von Tipps rund ums Home Office – was deutlich macht, wie wenig verbreitet das sog. Home Office zuvor in der breiten Masse der Arbeitnehmer*innen war und wie sehr die Wirklichkeit im Frühjahr 2020 sämtliche Planungen (z.B. des Gesetzgebers, der schon lange angekündigt hat, das Home Office gesetzlich regeln zu wollen), überholt hat. 

“Home Office”, “Mobiles Arbeiten”, “Remote Work” – über was sprechen wir eigentlich?

Home Office ist gesetzlich nicht definiert. Gemeint war damit – vor Corona – im engeren Sinn ein sogenannter “häuslicher Telearbeitsplatz”. Das bedeutet, dass Arbeitgeber*innen ihren Arbeitnehmer*innen in deren Wohnraum einen festen (Bildschirm-)Arbeitsplatz installieren, von dem aus die Arbeitnehmer*innen ihre Arbeit erbringen. Dabei unterscheidet man zwischen “dauerhafter Telearbeit”, bei der der*die Arbeitnehmer*in ausschließlich von zuhause arbeitet, und der sogenannten “alternierenden Telearbeit”, bei der der*die Arbeitnehmer*in im Wechsel von der betrieblichen Arbeitsstätte und von zuhause arbeitet. Wird echte Telearbeit vereinbart, ist der*die Arbeitgeber*in verpflichtet, die Vorgaben der Arbeitsstättenverordnung und insbesondere deren Anlage 6 (früher: Bildschirmarbeitsverordnung) einzuhalten. Für Arbeitgeber*innen stellt das häufig eine Hürde dar, die dazu führt, dass die Einführung des HomeOffice zu Unrecht als etwas Umständliches wahrgenommen wird.

Arbeitet der*die Arbeitnehmer*in dagegen außerhalb seiner betrieblichen Arbeitsstätte mit (s)einem Laptop z.B. zuhause am Küchentisch, im heimischen Garten oder in der Bahn, kommt die Anlage 6 der Arbeitsstättenverordnung gar nicht zur Anwendung. In diesen Fällen müssen Arbeitgeber*innen nur für Gefährdungsbeurteilung und Unterweisung nach Arbeitsschutzgesetz sorgen. Das macht die Einführung und Umsetzung dieser Form des “Home Office” für Arbeitgeber*innen einfacher. 

Häufig spricht man dann übrigens gar nicht von Home Office, sondern von Mobile Office oder Remote Work. Nachdem sich – auch durch die Corona-Krise – der Begriff Home Office für alle Arten der Arbeit außerhalb der Betriebsstätte etabliert hat, wird er auch im Folgenden für alle Arten der Arbeit außerhalb der Betriebsstätte verwendet. 

Gibt es einen grundsätzlichen Anspruch auf Home Office?

Ein gesetzlich verankerter Anspruch der Arbeitnehmer*innen auf Home Office existiert in Deutschland bislang nicht. Weder kann der*die Arbeitnehmer*in einseitig verlangen, aus dem Home Office zu arbeiten, noch der*die Arbeitgeber*in den*die Arbeitnehmer*in einseitig dazu verpflichten, im Home Office zu arbeiten. Allerdings soll der Anspruch auf Home Office zukünftig gesetzlich geregelt werden. Über die konkrete Ausgestaltung – z.B. über die Voraussetzungen in Bezug auf Betriebs- oder Unternehmensgröße und mögliche Ausnahmen – ist bislang nichts bekannt.

Bisher ist daher erforderlich, dass es eine andere Rechtsgrundlage gibt, die z.B. in einer Vertragsergänzung oder – falls im Betrieb ein Betriebsrat besteht – einer Betriebsvereinbarung liegen kann. Ausnahmsweise kann sich ein Anspruch auf Home Office aus dem allgemeinen arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz ergeben, wenn ein*e Arbeitgeber*in Arbeitnehmer*innen in vergleichbaren Situationen bereits die Möglichkeit des HomeOffice eröffnet hat.

Wurde der bestehende Arbeitsvertrag dadurch geändert, dass während der Corona-Krise Home Office angeordnet wurde?

Nein. Aufgrund der Vereinbarung darüber, dass der*die Arbeitnehmer*in (vorübergehend bzw. bis auf Widerruf) nicht mehr an der Betriebsstätte, sondern von zuhause aus tätig wird, ändert sich (vorübergehend bzw. bis auf Widerruf) nur der Arbeitsort, an dem die Arbeitsleistung erbracht wird. Die sonstigen Rechte und Pflichten bleiben davon aber unberührt. 

Vielfach besteht nach den Erfahrungen der letzten Monate der Wunsch, Home Office auch für die Zukunft im Unternehmen zu etablieren. Dazu sollten jetzt – auch im Hinblick auf einen möglichen zweiten Lockdown – die entsprechenden individualrechtlichen oder kollektivrechtlichen Vereinbarungen getroffen werden. 

Worauf sollte man achten, wenn man eine Vereinbarung über Home Office abschließt?

Es gibt ein paar Punkte, die in jeder Regelung zum Home Office enthalten sein sollten. Wichtig ist für Arbeitgeber*innen festzulegen, unter welchen Umständen das Home Office beendet werden kann. Das kann entweder dadurch geschehen, dass eine Befristung erfolgt (die ggf. verlängert werden kann) oder dem*der Arbeitgeber*in eine Widerrufsmöglichkeit eingeräumt wird.

Daneben sollte es klare Regeln zum Datenschutz, zur Datensicherheit, zur Arbeitssicherheit, Einhaltung der Arbeitszeit und zur Kostentragung geben. 

Wesentlicher Inhalt einer Vereinbarung zum Home Office:

  • Verfahren zur Einführung von Home Office
  • Möglichkeit der Beendigung des Home Office [durch Befristung oder Widerruf]
  • Arbeitszeit und Dokumentation der Arbeitszeit im Home Office
  • Datenschutz im Home Office [Konkrete Beschreibung aller technischen und organisatorischen Maßnahmen; hohe Anforderungen, da Arbeitgeber*innen als Verantwortliche iSd DSGVO die Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften garantieren müssen] 
  • Datensicherheit im Home Office
  • Kostentragung

Wie wirkt sich Home Office auf die Arbeitszeit aus?

Auch Arbeitnehmer*innen, die im Home Office arbeiten, müssen die vertraglich vereinbarte Arbeitszeit vollständig ableisten. Der*die Arbeitgeber*in hat selbstverständlich auch bei Arbeitnehmer*innen, die im Home Office arbeiten, die Möglichkeit, die Arbeitszeit ganz konkret im Rahmen der vertraglichen Vereinbarung und des Arbeitszeitgesetzes (ArbZG) festzulegen. Gleichzeitig muss er seine Arbeitnehmer*innen dazu verpflichten, dass diese sich an die gesetzlichen Höchstarbeitszeiten, Ruhezeiten und Pausen nach dem Arbeitszeitgesetz halten. Die Pflicht zur Erfassung der Arbeitszeit (die es gesetzlich nur für Überstunden und bei Minijobbern gibt) kann er*sie an seine Arbeitnehmer*innen übertragen, z.B. indem diese ihre Arbeitszeiten in eine Tabelle eintragen oder via App erfassen.

Besteht für das Arbeitsverhältnis grundsätzlich Vertrauensarbeitszeit, kann der*die Arbeitnehmer*in also weitgehend selbständig über die Verwendung der Arbeitszeit entscheiden, kann dies auch im HomeOffice weiter praktiziert werden.

Welche Rolle spielt ein Betriebsrat beim Thema Home Office?

Gibt es im jeweiligen Betrieb einen Betriebsrat, hat dieser Mitbestimmungsrechte, wenn es um die Einführung und Durchführung von HomeOffice geht, und ist entsprechend zu beteiligen.  


Nachtrag: Ich habe unsere Community im Anschluss an diesen Artikel gefragt, ob sie noch weitere Fragen rund ums Home Office hat. Drei davon habe ich in diesem IGTV beantwortet:

Check In für Meetings: Warum wir sie brauchen und wie sie gelingen

durchschnittliche Lesedauer 4 Minuten

Zu Beginn eines Arbeitstages oder eines Meetings den persönlichen Status quo bei den Mitarbeiter*innen abfragen – eine Routine, die gut ist, wenn sie mit Bedacht gestaltet wird. Worauf Führungskräfte und Meeting-Moderator*innen achten sollten, damit die sogenannten „Check-Ins“ ihre gute Wirkung entfalten, fasst Nele Groeger von The Shit Show zusammen.

Es soll Zeiten gegeben haben, da war die Interaktion mit Vorgesetzten und Kolleg*innen am Arbeitsplatz in etwa so stimmungsvoll wie eine Vulkanier-Betriebsversammlung (wir erinnern uns kurz: Star Trek, Mr. Spock, Ratio statt Emotionen… ja, genau). Gefühle zu zeigen, noch dazu negative, irritierte in dieser Arbeitswelt nicht nur – es wurde auch mit Unprofessionalität, Schwäche und mangelnder Disziplin gleichgesetzt. „Die hat sich einfach nicht im Griff.” oder „Wer bei sowas schon einknickt, ist nicht gemacht für den Job.” waren entsprechende Reaktionen auf gefühlige Aufwallungen wie Trauer, Wut oder Überforderung.

Die Kraft der Gefühle

Überraschung, diese Zeiten sind noch nicht vorbei! Denn bedauerlicherweise hält sich die Angst vor Gefühlen in vielen Organisationen auch heute noch. Erst seit Kurzem werden Stimmen laut, die – angestoßen durch die Ideen von New Work, positiver Psychologie und ganz allgemein dem Generationenwechsel – Gefühlen im Arbeitskontext zu ihrem Recht verhelfen wollen. Das Ziel: Menschen sollen auch im Büro ihr wahres Selbst zeigen dürfen. Rückendeckung bekommen diese Vorstöße von Arbeitsrechtler*innen und Gesundheitspsycholog*innen: Auf der Arbeit ausdrücken zu können, wie wir uns wirklich fühlen und wer wir wirklich sind, sorgt nämlich Studien zufolge für bessere mentale Gesundheit und steigert nebenbei auch die Motivation.

Erstmal ankommen

Als das Instrument, um die starre Trennung zwischen privatem und professionellem Ich zu überwinden, gilt gemeinhin das Check-In. Mit Check-In wird ein regelmäßiges Meeting-Ritual bezeichnet, bei welchem jede*r Teilnehmende am Anfang der Zusammenkunft mitteilt, mit welcher Stimmung und Erwartungshaltung sie oder er gerade da ist. Der Check-In soll allen die Möglichkeit geben, im Raum anzukommen, gegebenenfalls emotionales Gepäck abzugeben und sich ganz und gar dem Termin zu widmen. Soweit die Theorie. Denn in der Realität verstehen viele Organisationen unter Check-In eher eine Leistungs- als eine Stimmungsabfrage, in der sich über den Status des Projektes, nicht über den des eigenen Kopfes ausgetauscht wird.

Angst vorm Seelenstriptease

Und das ist kaum verwunderlich, schließlich liegt das Sprechen über Gefühle für die meisten Teams und Führungskräfte nicht gerade innerhalb der firmeneigenen Komfortzone. Gefühle scheinen irgendwie… kompliziert, ausufernd, unberechenbar (und das sind sie mitunter auch!). Der Vorschlag, sie in den Konferenzraum einzuladen, wird lieber gleich damit abgetan, man würde sich damit vor dem Team „nackig machen”, es sei anstrengend, zu touchy feely oder schlicht und ergreifend eine Zeitverschwendung. Als „Seelenstriptease” oder „unangemessene Grenzüberschreitung“ landen Check-Ins so schnell wieder auf dem „Könnte man mal machen”-Ideenstapel und geraten in Vergessenheit.

Bessere Kommunikation, stärkerer Zusammenhalt

Dabei haben Check-Ins – bei aller „emotionalen Sprengkraft” – viele Vorteile: Sie können Sympathie und Vertrauen zwischen Teammitgliedern und Führungskräften stärken, was sich wiederum positiv auf Zusammenhalt, Kommunikation und Arbeitsleistung auswirkt. Sie haben das Potenzial, mentale Belastungen und Konflikte frühzeitig aufzudecken und damit präventiv zu wirken. Die durch sie etablierten Routinen bieten Sicherheit und Orientierung und schaffen eine gemeinsame Aufmerksamkeitsausrichtung, mit der es leichter fällt, den Tag zu strukturieren. Die Corona-Krise hat zudem gezeigt, dass Check-Ins besonders bei verstärkter Remote-Arbeit wichtige Begleiter sind, die es erlauben, auch räumlich distanzierte Kolleg*innen wieder näher zusammenzubringen.

Kein Allheilmittel

Doch es wäre naiv, Check-Ins als Allheilmittel und noch dazu als allzu simples Tool zu verstehen, das jedes Team mal eben so etablieren kann, ohne die eigenen Voraussetzungen zu prüfen und neue Kompetenzen zu entwickeln. Lässt man sich auf sie ein, muss allen Beteiligten klar sein, dass sie den Deckel lösen können, der die Emotionen bisher in Schach gehalten hat. Kann die Moderator*in oder Initiator*in nicht auffangen, was sie/er angestoßen hat, kann das nicht nur für mental vorbelastete Menschen schwerwiegende Folgen haben. Deshalb gilt vorab: Wer sich den Umgang mit solchen Situationen nicht zutraut, sollte – erst einmal – Profis ranlassen, bis die eigene Sicherheit in Sachen „Gefühlsmanagement” gewachsen ist.

Es lohnt sich, sich langsam an die Check-In-Welt heranzutasten und dabei aufmerksam auf die individuelle Team- und Organisationssituation zu schauen. Denn auch wenn es im Netz tolle Tipps und viele Beispiele für knackige Check-In Fragen gibt – um sich für die jeweils richtige Herangehensweise zu entscheiden, sollte man sich über Ziel der Maßnahme, die Rollen der Teilnehmer*innen, den gemeinsamen Modus und die genaue Methode klar werden. Und schließlich gibt es noch ein paar Eckpfeiler, die man für ein gelingendes Check-In unbedingt im Blick behalten sollte:

1. Vertrauen first

Check-Ins fördern Vertrauen, aber sie fordern es auch. Um sich öffnen zu können, ist psychologische Sicherheit im Team oder in der Gruppe von großer Bedeutung. Damit Teammitglieder das Gefühl haben, sich öffnen zu können, braucht es Führungskräfte, die als Kulturgestalter*innen mit gutem Beispiel vorangehen. Dabei geht es nicht darum, jede*n an den privatesten Problemen teilhaben zu lassen. Aber ein/e Leader*in, der ok damit ist, auch manchmal gestresst, herausgefordert oder unsicher zu sein, lädt andere dazu ein, sich auch zu öffnen.

2. Achtung bei der Fragenwahl

Ein gutes Check-In ist auf die individuelle Situation des Teams oder der Gruppe eingestellt – und das bedeutet, dass auch bei der Auswahl der Frage genauer hingeschaut werden muss. Auch vermeintlich „harmlose” Standard-Check-In-Fragen können in manchen Situationen unangebracht sein, etwa wenn man in einer angespannten Situation ganz gerade heraus fragt: „Und? Wie geht es dir heute?” – und das ohne die Gesamtstimmung und den Kontext zu beachten. Ein „Was brauchst du heute, um ganz hier anzukommen?” kann dann bspw. besser funktionieren.

3. Wer macht mit?

Wie gut sich die Teilnehmer*innen eines Check-Ins kennen, entscheidet ganz zentral darüber, wie man dieses gestalten sollte. Ein festes Team hat gemeinsame mentale Modelle und ist in seiner Zusammenarbeit voneinander abhängig – die Bindung ist intensiver und der Check-In kann häufig tiefer gehen als in einer losen Gruppe. Bei einer großen Anzahl an Teilnehmer*innen oder Menschen, die sich noch nicht gut kennen, können weniger tiefschürfende Check-Ins eine Möglichkeit bieten, sich etwas zu beschnuppern. Die Teilnehmer*innen können z.B einen persönlichen Gegenstand mitbringen und darüber berichten. Grundsätzlich gilt: Je größer die Gruppe, desto mehr persönliche Distanz ist angebracht.

4. Grenzen respektieren

Obwohl Check-Ins von einer Mehrzahl an Beschäftigten gewünscht werden, gibt es immer wieder auch Kolleg*innen, die nichts teilen möchten. Um daraus resultierende Konflikte abzufedern, ist es wichtig, die oben genannten Punkte so gut es geht zu beachten. Zuletzt zählt aber – auch für diejenigen, die sich öffnen möchten – dass alle mit vollem Herzen dabei sind. Die Person, die nichts teilen möchte, sollte das Gefühl vermittelt bekommen, dass ihre Entscheidung respektiert wird – und nach dem Check-In wieder in den Loop geholt werden.

5. Worten Taten folgen lassen

Ihr habt erfolgreich ein Check-In-Ritual etabliert – und ein/e Kolleg*in nimmt allen Mut zusammen und teilt, dass sie sich überfordert und ausgebrannt fühlt. Nun ist es an der Zeit, zu handeln, schließlich sind Check-Ins u.a. dafür da, genau solche Dysbalancen aufzudecken. Damit es nicht nur beim netten Reden bleibt und sich die Teilnehmer*innen eures Check-Ins gewertschätzt fühlen, müssen Belastungen aufgegriffen und ernst genommen werden. Ein Gespräch unter vier Augen im Anschluss des Check-Ins ist wichtig, um die nächsten Schritte zur Entlastung der Person zu planen.


Autorin: Nele Groeger

Nele ist Mitbegründerin von SHITSHOW – Agentur für psychische Gesundheit. Mit SHITSHOW unterstützt und begleitet sie Organisationen dabei, mental gesunde Arbeitsmodi- und bedingungen zu entwickeln und für Mental Health zu begeistern. Als langjährige Kommunikationsstrategin und Copywriterin ist sie zudem für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit verantwortlich – und glaubt fest an die heilsame Kraft von Mittagsschläfchen.

Wer noch keine Antworten hat, muss die richtigen Fragen stellen

durchschnittliche Lesedauer 4 Minuten

Die Krise als Chance, heieiei, kaum ein Allgemeinplatz wird derzeit mehr gequält als dieser. Die Krise als Chance – echt jetzt? Ja, echt jetzt, denn trotz der großen Popularität ist an diesem Gedanken viel Richtiges. Die Herausforderung besteht allerdings darin, konkretes Handeln abzuleiten, damit das gelingen kann. Wagen wir einen Versuch – und stellen dabei nicht die Organisation oder den Vorstand, sondern die Führungskraft einmal in den Mittelpunkt. Welche Fragen sollten Führungskräfte jetzt mit wem besprechen, damit die Krise tatsächlich eine Chance ist?

Vorher jedoch: Ein kleiner Schritt zurück und den Blick darauf geworfen, worum es handlungsnah gehen soll. Wir befinden uns in der Coronakrise, und niemand weiß, wie lange diese noch genau dauern wird. Also macht es Sinn, sich mit dem Tatbestand der Krise ein wenig auseinanderzusetzen.

Krise – Was heisst das eigentlich?

Um „Krise“ zu definieren, reizt ein schnelles Googeln, ein kurzer Blick auf Wikipedia. Widersteht man diesem Reiz und versucht es aus dem eigenen Verständnis, kommt man vielleicht auf folgendes: “Krise” bezeichnet eine schwierige Situation, die den Status quo, das Immer-weiter-so, gefährdet. 

Krise zeigt sich konkret: Sinkende Absatzzahlen, Umsätze und Gewinne. Angst, Unsicherheit, fehlende Antworten auf drängende Fragen.

Krise zeigt sich systemisch: Schwächen im Geschäftsmodell (z. B. extrem kurze Refinanzierungszyklen wie im Textileinzelhandel), Schwächen in der IT (z.B. fehlende Mobilgeräte und schwächelnde Server, die den Wechsel in die Remote-Arbeit sehr mühsam machen) usw.

Und Krise zeigt sich: grundsätzlich. Weil vieles nicht mehr funktioniert, wie wir es immer schon gemacht haben. Krise nötigt also zum Handeln, ob man will oder nicht. Ich muss Veränderungen veranlassen, um krisenhafte Situationen nicht eskalieren zu lassen. Ich bin in diesem Sinne also Teil der Krise.

Ich in der Krise

Eine der vielen Fragen, die durch dieses Frühjahr geisterten, beschäftigte sich damit, wie ich als Individuum mich zur Krise stellen will oder kann. Bleibe ich in der Angst stecken und erstarre vor Schreck? Oder lasse ich mich vom Schrecken wecken? Schaffe ich es, Lehren daraus zu ziehen, was nicht mehr funktioniert, um abzuleiten, wie ich mich anders verhalten sollte als vorher? Und wachse ich am Ende sogar daran, auch die größten Schwierigkeiten zu meistern?

Was deutlich wird: Die Bewältigung einer Krise beginnt immer bei mir selbst. Ich muss, gerade als Führungskraft, für mich selbst sorgen. „Eine Hand für mich, eine Hand fürs Boot.“ Dieser Ausspruch meines Coaching-Ausbilders Heinrich Fallner hat sich tief eingeprägt.

Man kann diese Erkenntnis nicht ernst genug nehmen. Denn als Führungskraft muss ich nicht nur die Krise für mich klar kriegen: Ich muss auch noch aushalten, dass mein Team, meine Mitarbeiter*innen auf mich schauen und verunsicherte Blicke mich fragen: Wie schlimm ist es? Wo soll es jetzt hingehen? Was können wir tun? Und ich muss es aushalten, dass mein*e Vorgesetzte*r auch noch auf der Suche nach geeigneten Strategien und Verhaltensweisen ist.

Führungskräfte in der Krise

Als Berater in der Krise habe ich in den letzten Monaten vor allem eines erlebt: Führungskräfte sind überfordert damit, gleichzeitig die Krise zu managen und Zukunftsstrategien zu entwickeln. Wenn ich am Ende des Tages die neuen Verordnungen umgesetzt, die neuen Marktentwicklungen in Vertriebsmaßnahmen übersetzt oder die Anträge für Fördermittel gewissenhaft ausgefüllt habe – dann ist häufig keine Energie und kein Raum mehr da, um in größeren Kategorien zu denken.

Und wenn doch: Dann helfen erprobte, bewährte Vorgehensweisen gerade nicht weiter, alle sind auf der Suche nach neuen Antworten und vor allem: Alle schauen sich gegenseitig beim Suchen zu. Best Practices: Fehlanzeige. Beim Wettbewerb abgucken: Überflüssig. 

Diese Fragen sollte jede Führungskraft jetzt stellen

Diese Analyse hat vor allem eine Konsequenz: Man ist als Führungskraft mehr denn je auf sein eigenes Team angewiesen. Um gemeinsam darüber nachzudenken, was zu tun ist und zu tun sein wird. Weil es von außen einfach niemand sagen kann. Ein guter Führungsimpuls kann also vor allem darin bestehen, die richtigen Fragen aufzuwerfen. Und davon gibt es gerade ja nicht zu wenige. Ein paar Beispiele gefällig?

Wie halten wir Nähe im Team aufrecht?

Das Home Office ist eine gute Möglichkeit, Führung zu entkommen – weil es viel leichter fällt, Distanz zu schaffen. Andererseits haben wir wegen ausgefallener Termine vielleicht mehr Zeit als vor Corona, uns miteinander zu befassen. Wie schaffen wir Nähe, auch wenn wir uns persönlich nicht begegnen?

Meine Vorschläge :

Ein Check-in in jedem Online-Meeting zur Frage, wie es jedem Teilnehmenden gerade geht, berücksichtigt die besondere Situation.

Gut vorbereitete Team-Meetings, die sich nicht mit Fragen zu Projekten oder Kunden beschäftigen, sondern mit der Zusammenarbeit im Team, schaffen Raum für Kritik und Ideen und verbessern so die Arbeitsprozesse.

Ein tägliches Kaffee-Meeting, bei dem die Teilnahme freiwillig ist und über alles (auch außerhalb der Arbeit) geredet werden darf, sorgt zumindest teilweise für den wichtigen Ersatz der „Gespräche an der Kaffeemaschine“.

Wie können wir die Chance nutzen, in unserem Team mehr Eigeninitiative und Selbstbestimmung zuzulassen?

Mitarbeiter*innen im Home Office hierarchisch zu führen ist fast nicht möglich – denn die üblichen Kontrollmechanismen greifen nicht über die Distanz. Als Führungskraft kann ich aber führen, in dem ich Zwecke und Ziele formuliere. Attraktive (auch kleine) Projekte mit einem klar formulierten Rahmen, für die Mitarbeiter*innen sich freiwillig melden können, um sich dann eigenständig zu organisieren und gemeinsam an einem guten Ergebnis zu arbeiten, sorgen für Freiraum und gemeinsame Motivation, bestenfalls auch über Abteilungsgrenzen hinweg.

Wie können wir die neuen Vereinbarkeitsmodelle verstetigen, um allen Mitarbeiter*innen auch zukünftig mehr Möglichkeiten zu schaffen?

In der Krise wurden viele Freiheiten im Zusammenhang mit der Kinderbetreuung gewährt, von der Arbeit im Home Office bis zur Flexibilisierung von Arbeitszeiten oder gar einer Arbeitsbefreiung. Diese einfach wieder abzuschaffen, wäre eine verschenkte Chance. Indem ich als Führungskraft Transparenz über all die individuellen Lösungen schaffe und mit meinem Team darüber diskutiere, werden die Vorteile sichtbar und Störgefühle bzgl. möglicher Ungerechtigkeiten abgebaut oder konkret benannt

Wie können wir die neue digitale Arbeitsdichte steuern, um Überforderungen zu vermeiden?

Digitale Zusammenarbeit macht es notwendig, für ausreichend Pausen zu sorgen, die in der engeren Arbeitstaktung verloren gehen, wenn man sie nicht neu und auch formal organisiert. Die Thematisierung der Arbeitstaktung mit jedem einzelnen Mitarbeitenden ist eine aktuell häufig unterschätzte Führungsaufgabe.

Welche gelungenen Experimente sollten wir für die Zukunft sichern? Welche Experimente können wir jetzt neu wagen und welche Zukunftschancen sehen wir in Ihnen?

In der Auflösung alter, nicht mehr funktionaler Strukturen wurden viele kleine Neuerungen einfach experimentell ausprobiert statt sie lange vorzudenken und abzustimmen. Dabei sind viele Innovationen entstanden, deren Sicherung sich lohnen wird. Zudem werden in der Krise Experimente möglich, die sonst von der Organisation kaum toleriert würden.

Meine Handlungsempfehlungen:

Hierzu einen gut vorbereiteten Workshop mit dem Team zu veranstalten, wird sich in der Regel sehr lohnen.

Zu überlegen, welche Änderungen sich positiv ausgewirkt haben, sichert diese (möglicherweise) verborgenen Schätze. Man kann sie formulieren und ihre Verstetigung sichern.

Darüber hinaus Ideen festzuhalten, was man einmal ausprobieren sollte, und den jeweils konkreten ersten Umsetzungsschritt zu formulieren, wird die eine oder andere Innovation auf den Weg bringen, die sich im weiteren Verlauf der Krise oder danach sehr auszahlen kann.

Die Auseinandersetzung mit diesen (und anderen) Fragen ist höchst relevante Führungsarbeit in Krisenzeiten. Ebenso die Bündelung von Ideen und Organisation, dass hieraus konkrete Maßnahmen umgesetzt werden.

Wichtig ist dabei noch eines: Man sollte die Fragen mit denen bewegen, die am Ende an der Umsetzung von Maßnahmen, Veränderungen etc. beteiligt sein werden. Damit nutzt man einerseits die verschiedenen Perspektiven und schlauen Köpfe zur Formulierung kluger Antworten – und erzeugt andererseits Motivation und Hintergrundwissen für die Umsetzung. 


Zum Nachdenken & Nachmachen

  • Um die Krise zu managen und gleichzeitig in die Zukunft zu denken, musst Du Dich und Dein Team entsprechend organisieren, damit beides gelingt. 
  • Als Führungskraft kannst Du auch mit guten Fragen führen statt Antworten geben zu müssen. Indem Du diese aufwirfst, eröffnest Du Dir und Deinem Team viele Chancen, auch (und vielleicht gerade) in der Krise zu wachsen. 
  • Bewege die Fragen mit denen, die am Ende an der Umsetzung von Maßnahmen, Veränderungen etc. beteiligt sein werden, um Wissen und Motivation des Teams zu sichern.

Jetzt organisieren, wovon Eltern in Winter profitieren könnten

durchschnittliche Lesedauer 3 Minuten

Die Corona-Krise setzte besonders Eltern unter Druck – und tut es noch. Wie können reguläre Erwerbsarbeit, Kinderbetreuung und alle anderen Pflichten unter einen Hut gebracht werden? Sich diese Frage alltäglich zu stellen, wurde im Frühjahr 2020 für die meisten Eltern zum neuen, kräftezehrenden Status quo. Vorbei ist er noch lange nicht. Wie Arbeitgeber*innen Eltern unterstützen können und welche Vorteile das auch für Unternehmen hat, fasst dieser Artikel zusammen. 

Unsichere Zeiten gibt es für Arbeitnehmer*innen immer wieder. Klimawandel, Digitalisierung, demographische Veränderungen und der sich in diesem Zusammenhang anbahnende Umbruch ganzer Industriezweige führen zu eher schleichender Unsicherheit, Anpassungen erfolgen über einen langen Zeitraum. Die Finanzkrise oder das Platzen der Dotcom-Blase brachten schlagartig Veränderungen und haben von heute auf morgen für viele die Grundlage ihres Arbeitens verändert.

Die doppelte Unsicherheit für Eltern

Bei Corona ist das ähnlich – und doch ganz anders. Schlimmer. Neu für Eltern ist die doppelte Unsicherheit in Bezug auf die eigene Arbeitswelt. Für viele Eltern ist nicht nur unklar, wie sicher und krisenfest der eigene Job (oder das eigene Geschäftsmodell) ist. Nein, darüber hinaus wandeln sich auch die Rahmenbedingungen, unter denen man sich für das Konstrukt Familie plus Job entschieden hat. Es ist nicht mehr sicher, ob und unter welchen Umständen die Betreuung der eigenen Kinder gewährleistet ist und welche Einschränkungen dabei demnächst gelten. 

Geschlossene Kitas, Unterricht zu Hause, der Ausfall von Babysittern und Großeltern für die Betreuung, wegfallende Förderangebote, Wegfall von Training in Sportvereinen, gesperrte Spielplätze und die Schließung vieler Ausflugsziele brachten Eltern an die Grenzen ihrer Kapazitäten. In den Sozialen Medien berichteten einige von ihnen mit dem Hashtag #coronaeltern eindrucksvoll über ihre Erschöpfung. Die Angst vor einem Winter, der die Erfahrungen des anstrengenden Frühjahrs zurückbringt, ist entsprechend groß.

Sicherheit für berufstätige Eltern schaffen

In dieser Situation voller Unsicherheit und Überlastung haben Unternehmen die Chance und die Verantwortung, Eltern Sicherheit und Halt zu geben. Idealerweise ist Mitarbeiterorientierung und Familienfreundlichkeit bereits im Unternehmen verankert und wird durch die Geschäftsführung vorgelebt. Aber selbst ohne feste Regeln und Unterstützungsangebote im Unternehmen kann man als Führungskraft, egal wie groß das Team ist, seinen Mitarbeiter*innen Hilfe anbieten.

Dafür muss eine Führungskraft natürlich überhaupt erst mal wissen, was die Mitarbeiter*innen umtreibt. Es müssen also Räume für die Kommunikation privater Themen geschaffen werden. Führungskräfte sollten wissen, dass es einen Todesfall in einer Familie oder eine Risikoschwangerschaft gibt, damit sie entsprechend steuern und unterstützen können. Vorausgesetzt, Mitarbeiter*innen wollen darüber sprechen. In jedem Fall aber sollte man ihnen das Gefühl geben, dass es dafür offene Ohren gäbe.

Wichtig in diesem Zusammenhang ist die Vorbildrolle von Führungskräften. Es ist nicht nur essentiell, anzuerkennen, dass Eltern aktuell Herausforderungen haben, die über den Arbeitskontext weit hinausgehen – und dies zu verbalisieren. Es ist genauso wichtig, mit gutem Beispiel voranzugehen. Ein Meeting abzusagen, weil man sich um ein krankes Kind kümmert oder die Betreuung nicht anders gewährleistet werden kann, zeigt dem Team, dass das Unternehmen das Thema ernst nimmt und gleiche Maßstäbe für alle gelten.

Win-win: Auch Unternehmen profitieren

Lohnt sich das für mein Unternehmen eigentlich? Natürlich. Mitarbeiter*innen, die gesehen und mit all ihren Problemen angenommen und bestärkt werden, sind loyale und motivierte Mitarbeiter*innen. Dies schlägt sich für das Unternehmen auch wirtschaftlich nieder.

Motivierte Mitarbeiter*innen haben eine höhere Produktivität. Eine erhöhte Motivation und damit einhergehende Bindung an Job und Arbeitgeber senken den Willen zum Wechsel des Jobs und damit die Fluktuationsrate. Wenn man bedenkt, dass ein Mitarbeiterwechsel eine Firma bis zu 33% des Jahresgehaltes des Mitarbeiters kostet, ist das ein wichtiger Faktor.

Die besondere Behandlung von Eltern in der Corona-Krise aus Unternehmenssicht lohnt sich – langfristig gesehen – also auch wirtschaftlich. Moralisch richtig ist sie allemal.


Was Führungskräfte innerhalb der Corona-Krise konkret für Eltern tun können

  • Definiere Kernzeiten, in denen Meetings abgehalten werden. Das führt zu Planbarkeit und entlastet Eltern speziell an den Randzeiten des Arbeitstages.
  • Lockere Deadlines und setze klare Prioritäten, um Stressfaktoren für Eltern temporär zu reduzieren.
  • Räume Möglichkeiten zur bezahlten, teilweise bezahlten oder unbezahlten Freistellung ein. Vor allem eine temporäre Teilzeitbeschäftigung kann Eltern die notwendige Luft verschaffen, um die Betreuung innerhalb der Familie aufzufangen.
  • Stelle Informationen zu medizinischen Themen oder Angeboten des Unternehmens in Krisenzeiten bereit. Das entlastet Mitarbeiter*innen bei der Informationsbeschaffung.
  • Beachte die in der Krise geleistete Care-Arbeit in der Erfolgs-Bewertung: Eine Abwertung des Leistungsniveaus in Feedbackprozessen sollte vermieden werden.
  • Diskutiere jetzt mit Deinen Mitarbeiter*innen, welche Krisenmaßnahmen sich im Frühjahr 2020 für Eltern und für das umgebenden Team als sinnvoll und nachhaltig erwiesen haben – und welche nicht. Beschließe, dass erfolgreiche Maßnahmen künftig in Krisenzeiten beibehalten werden – das reduziert Ängste.
  • Frage nach, welche Fehler und Probleme aus Mitarbeiter*innensicht in der Krise aufgetreten sind – um daraufhin Verbesserungen einzuleiten.

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Führen auf Distanz: Behalte Eure Stärken im Blick

durchschnittliche Lesedauer 4 Minuten

In vielen Unternehmen waren Führen auf Distanz und virtuelle Zusammenarbeit lange kein Teil des Arbeitsalltags. Die Corona-Pandemie hat die Präsenzarbeit im Firmenbüro jedoch auf den Prüfstand gestellt und die Frage aufgeworfen, ob das ortsunabhängige Arbeiten als dauerhafter Status quo realistisch erscheint. Wie auch immer die Antwort am Ende ausfällt, eins könnte bei der Umsetzung definitiv helfen: ein stärkenbasierter, authentischer Führungsstil.

Die Corona-Pandemie hat Führung, wie wir sie klassischerweise kennen, auf den Kopf gestellt. Führung auf Distanz wurde in fast allen Unternehmen zum neuen Status quo. Laptops wurden angeschafft, viele Arbeitnehmer*innen ins Home-Office geschickt und Führungskräfte mussten von heute auf morgen auf digitale Teammeetings umsteigen. Mittlerweile haben einige Organisationen ihre Mitarbeiter*innen wieder in die Firmenbüros zurückgeholt, bei anderen wird über die Beibehaltung der virtuellen Zusammenarbeit diskutiert (für diese Diskussion kann der arbeitsrechtliche Artikel zum Home Office von Mareike übrigens sehr wertvoll sein).

Virtuelle Zusammenarbeit braucht neue Führungskompetenzen

Viele Führungskräfte stelle sich die Frage, inwieweit das ortsunabhängige Arbeiten und somit das Führen auf Distanz auch auf Dauer gelingen kann. Die Flexibilisierung des Arbeitsortes bietet nämlich auch zahlreiche Vorteile, die einige Organisationen durchaus beibehalten wollen. Zahlreiche Arbeitnehmer*innen lernten es unter anderem zu schätzen, dass Arbeitsweg und Pendeln wegfallen und somit auch Arbeitszeiten an die eigenen Bedürfnisse angepasst werden konnten.

Virtuelle Zusammenarbeit erfordert jedoch auch neue Führungskompetenzen, da das Führen auf Distanz von Führungskräften meist als anspruchsvoller empfunden wird. Herausforderungen liegen in der Förderung des Teamzusammenhalts und des Wir-Gefühls, in der Aufrechterhaltung einer effektiven Kommunikation sowie darin, dass die (vermeintliche) Kontrolle über die Mitarbeiter*innen verloren geht und mehr Vertrauen gefragt ist.

In vier Schritten zur stärkenorientierten Führung

Um das Führen auf Distanz erfolgreich umzusetzen, kann es hilfreich sein, auf einen stärkenbasierten Führungsstil zu setzen. Basierend auf dem Ansatz der Positiven Psychologie setzt diese Art des Führens darauf, eigene Stärken und Stärken der Mitarbeiter*innen zu identifizieren und einzusetzen. Durch den Fokus auf Stärken wird Führung authentisch und erhöht die Selbstwirksamkeit der Führungskraft und der Teammitglieder, also die Überzeugung auch herausfordernde Situationen erfolgreich bewältigen zu können. Ein positives Betriebsklima, auch auf Distanz, trägt zur Vertrauensbildung unter den Arbeitskolleg*innen bei und stärkt den Zusammenhalt.

Wie kann es Führungskräften nun gelingen, stärkenorientierte Führung umzusetzen? Hierfür kann es hilfreich sein, sich die folgenden vier Fragen zu stellen, um herauszuarbeiten, wie das Führen auf Distanz auf Basis der eigenen Stärken gelingen kann.

Was zeichnet mich aus?

Die Basis eines stärkenbasierten Führungsstils ist es, die eigenen Stärken zu kennen. Es gilt, sich bewusst zu machen, wo natürlicherweise eigene Talente und Begabungen liegen. Hier können zwei Herangehensweisen gewählt werden: Schreib für die erste Möglichkeit alles auf, was Du gut kannst und was Dir leicht fällt. Entwirf ein reflektiertes Selbstbild Deiner eigenen Stärken. Dieses Selbstbild kann noch einmal mit einem Fremdbild abgeglichen werden. Alternativ kann es als zweite Möglichkeit auch hilfreich sein, einen wissenschaftlich fundierten Persönlichkeitstest zu absolvieren, um ein differenziertes Selbstbild zu erhalten.

In einem zweiten Schritt empfehle ich, Stationen aus der eigenen Biographie herauszuarbeiten, in denen man persönlich gewachsen ist, die man erfolgreich bewältigt hat und die einen geprägt haben. Die Beschäftigung mit der eigenen Lebensgeschichte wirkt bestärkend, wenn man sieht, wie man an Lebenserfahrung gewonnen hat, die man nun auch in neuen herausfordernden Situationen einsetzen kann. Dabei ist auch die Frage wichtig, welche Stärken Sie durch die Bewältigung dieser Situationen entwickeln konnten. 

Reflektiere im Anschluss, wie Deine so definierten Stärken Dein eigenes Führungsverhalten unterstützen können. So kann es sein, dass Du feststellst, dass Du in einer früheren herausfordernden Führungssituation durch Dein gutes Gespür für Menschen und gute Kommunikation das Vertrauen des Teams erhalten konnte, was Dir nun auch beim Führen auf Distanz helfen kann. Oder Du erkennst ein ausgeprägtes Organisationstalent, das Dir nun beim vermehrten Koordinierungsaufwand im virtuellen Team zugutekommt. Wichtig ist zu verstehen, dass Stärkenbasierung dazu führen sollte, dass Du einen Führungsstil findest, der zu mir passt und gerade dadurch Effektivität entfaltet. Somit ist die eigene Selbsterkenntnis der Ausgangspunkt.

Wo finde ich Unterstützung in meinem Umfeld?

Stärkenbasierte Führung bedeutet auch, begünstigende Ressourcen im eigenen Umfeld zu finden und zu nutzen. Das eigene Umfeld kann sich dabei auf die Organisation beziehen, in die man eingebettet ist, aber auch auf Vorbilder, Mentor*innen oder Unterstützer*innen, die einen im eigenen Tun bestärken. Überlege Dir, wer oder was dies in Deinem Umfeld sein könnte. So kannst Du beispielsweise Unterstützung finden beim unternehmensinternen IT-Team, das gut ansprechbar ist und die notwendige Infrastruktur für die virtuelle Zusammenarbeit zur Verfügung stellt. Alternativ kann es auch der*die eigene Vorgesetzte sein, der*die das Führen auf Distanz befürwortet und beim guten Übergang begleitet.

Unterstützung kann auch außerhalb der Organisation gefunden werden, zum Beispiel in Form eines*r Mentor*in oder Coachs, der*die Raum zum Reflektieren bietet und als Sparringspartner*in agiert. Du kannst auch darüber nachdenken, mit gleichgesinnten Kolleg*innen innerhalb der Organisation oder unternehmensübergreifend eine Mastermind-Gruppe zu gründen, um in den regelmäßigen Austausch zu gehen und aktuelle Herausforderungen mithilfe der kollegialen Fallberatung zu bearbeiten. Das Schaffen eines begünstigenden Umfelds trägt dazu dabei, mit neuen Herausforderungen besser zurechtzukommen.

Wie gehe ich mit Herausforderungen um?

Wenn Du bisher noch unerfahren im Führen auf Distanz ist, ist es hilfreich, zu reflektieren, wie Du mit Herausforderungen umgehst. Wie verhältst Du Dich, wenn neue und unerwartete Situationen auftreten? Wie gehst Du mit Schwierigkeiten um? Was tust Du, wenn Fehler passieren? Der Entwicklung von Selbstwirksamkeit geht Selbstaufmerksamkeit voraus. Wie geht es mir, wenn nicht alles glatt läuft? Und als Führungskraft ist es besonders wichtig, zu überlegen, wie man dann in diesen Situationen mit Kolleg*innen und Teammitgliedern kommuniziert.

Es gilt, Strategien zu entwickeln, um positiv mit Herausforderungen umzugehen. Gerade zu Beginn der virtuellen Zusammenarbeit kann nicht immer alles reibungslos funktionieren. Insbesondere die kommunikativen Abstimmungsprozesse müssen neu gestaltet werden. Neue Kommunikationsregeln werden aufgestellt und das Team spielt sich im neuen virtuellen Rahmen erst sein. Für Vertrauensbildung und Transparenz im Vorgehen werden mehr Kommunikation und eine positive Fehlerkultur nötig sein. Das eigene Emotionsmanagement aber auch die Teamresilienz sind hier gefragt und sollten durch Reflexionsphasen unterstützt werden. Überlege Dir, auch mit dem Team gemeinsam, was Dir und Deinen Mitarbeiter*innen beim positiven Umgang mit der neuen Situation helfen kann.

Wann bin ich authentisch überzeugend?

Zu guter Letzt solltest Du Dir auch überlegen, wie und wann Du authentisch überzeugend wirkst. Dies wird schon an der Mediennutzung sichtbar. Nutzt Du gerne Präsentationsfolien, um Dinge zu untermauern, oder bist Du eher der Typ, der in Aktion am Flipchart oder Whiteboard glänzt? Bist Du vor allem in Teammeetings überzeugend oder gehst Du lieber ins Einzelgespräch? Nutze dieses Wissen, um Deine Teammitglieder mitzunehmen und das Vertrauen in Deine Führung zu stärken.

Zu Beginn kann es hilfreich sein, verschiedene Dinge auszuprobieren und unterschiedliche Kommunikationskanäle zu nutzen. Mit der Zeit werden sich geeignete Kommunikationsmethoden herauskristallisieren. Bleibe aber auch hier in der Reflexion. Gerade bei virtuellen Teams ist es wichtig, alle mitzunehmen, um kein Teammitglied emotional zu verlieren. Nutze Kommunikation also auch, um die Selbstaufmerksamkeit der Mitarbeiter*innen zu fördern, so dass auch diese adäquat auf ihre jeweiligen Bedürfnisse reagieren und ihre persönlichen Stärken nutzen können.

Zum Nachdenken & Nachmachen

  • Setze bei der Etablierung von Führen auf Distanz als neuen Status quo auf einen stärkenbasierten Führungsstil, der Dir den Übergang erleichtern kann
  • Arbeite Deine natürlichen und erlernten Stärken heraus und reflektiere, wie Du diese beim Führen auf Distanz nutzen kannst.
  • Suche Dir ein bestärkendes Umfeld und nutze Ressourcen, um die virtuelle Zusammenarbeit zu erleichtern.
  • Überlege, wie Du mit Herausforderungen umgehst und was Dir beim positiven Umgang mit neuen Situationen helfen kann.
  • Gehen in die Selbstreflexion, um zu prüfen, wann Du authentisch überzeugend wirkst und nutzen Sie dieses Wissen konsequent.

Autorin: Jasmin Schweiger

Jasmin Schweiger, M.Sc., ist Wirtschaftspsychologin mit dem Schwerpunkt Leadership und beschäftigt sich als Führungskräftecoach und Trainerin mit der Frage, wie innovative Führung und Neues Arbeiten ausgehend von einem stärkenbasierten Führungsstil gelingen können. Dabei liegt der Fokus ihrer Arbeit darauf, die Lücke zwischen dem, was die Wissenschaft weiß, und dem, was die Wirtschaftspraxis tut, zu schließen.

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# 1 Status quo

durchschnittliche Lesedauer < 1 Minute

„In welchem Zustand befindet sich Euer Unternehmen gerade? Und was heißt das für Dich?“ Kaum etwas interessiert im beruflichen Kontext momentan so sehr wie die Situation, in der Organisationen, Führungskräfte und Arbeitnehmer*innen gerade stecken. Und es gibt wohl auch keine Frage, deren Antwort in diesem Jahr eine so kurze Halbwertszeit hat wie die nach dem Status quo. Was heute noch gilt, kann morgen schon ganz anders aussehen. Trotzdem muss man ihn immer wieder aufs Neue bestimmen, den Status quo. Um zu entscheiden, wie es weitergehen kann und muss. Nicht nur 2020. Wir haben neun Artikel, die dabei helfen.

Alle Artikel der Ausgabe #1

Gastbeiträge Ausgabe #1

Holokratie oder Hierarchie? Ein Interview über Menschenbilder im Kontext von Corona

durchschnittliche Lesedauer 8 Minuten

Haben agile Organisation bessere Voraussetzungen als klassische Unternehmen, um auf Krisen zu reagieren? Oder braucht es in Zeiten von Unsicherheit doch mehr Hierarchie statt Holokratie?  Ein Gespräch mit Jörg Haffner und Caroline Scherr von Qualitypool über Unternehmenskultur, Führung, Eigenverantwortung, agile Organisationsformen und Menschenbilder im Kontext von Corona. Geführt von Vera Mani-Daub.

Vera: Zum Einstieg: Wer seid ihr? Was macht ihr bei Qualitypool?

Caroline: Ich bin Caroline und seit 9 Jahren bei Hypoport – der Muttergesellschaft von Qualitypool. Nach Stationen in verschiedenen Unternehmensteilen bin ich nun fest im Qualitypool-Team. Ich verantworte als Lead Link die Themen Kommunikation und Marketing. Ursprünglich komme ich aus dem journalistischen Bereich. Bei einem neu aufgebauten Finanzsender habe ich Start-up Erfahrung gesammelt und dort sowohl meine Begeisterung für digitale Entwicklungen in der Kommunikation als auch für neue Formen der Zusammenarbeit entdeckt.

Jörg: Ich bin seit 4 Jahren bei Qualitypool. Nach außen hin vertrete ich das Unternehmen als Geschäftsführer. Nach innen sprechen wir in unserer holakratischen (Die Mitarbeiter*innen von Qualitypool sprechen von “Holakratie”, wir als Magazin benutzen den gebräuchlicheren Begriff “Holokratie”. Beides ist richtig. Anm. der Redaktion) Organisationsstruktur nicht von den klassischen Leitungsfunktionen. Ich agiere als Lead Link des sogenannten Ankerkreises und des General Company Kreises. Nach meinem BWL-Studium bin ich über diverse Stationen im Finanz-/Bankenumfeld bei Qualitypool “gelandet”. Meine vorherigen Arbeitgeber waren trotz ihrer Konzernstrukturen dennoch nicht im klassischen Sinne Finanzunternehmen, sodass ich bereits früh mit anderen Werten und Herangehensweisen geimpft wurde. Nicht zuletzt hat mich die eigene Erfahrung, während der Finanzkrise als Mitarbeiter “in der Waschtrommel” zu landen, so nachhaltig geprägt, dass ich nun als Unternehmer bei Qualitypool motiviert bin, es anders zu machen. 

Vera: Wie würdet ihr die Unternehmenskultur bei Qualitypool beschreiben?

Jörg: Ich erlebe die Unternehmenskultur bei Qualitypool als sehr offen und kollegial. Die Mitarbeiterinnen sind extrem hilfsbereit, es ist kein Gegeneinander, sondern ein Miteinander. Wir agieren sehr transparent, gepaart mit einer hohen Eigenverantwortung. Jeder darf Verantwortung übernehmen, muss es jedoch nicht. Ich glaube, was alle vereint ist, dass sie stolz sind bei Qualitypool zu arbeiten und darauf, was jeder einzelne und wir als Unternehmen leisten.

Caroline: Das kann ich aus der Mitarbeiter*innen-Perspektive bestätigen. Weil die Identifikation da ist, schaffen wir es, auch auf digitalem Wege über die verschiedenen Standorte hinweg, in regelmäßigen Meetings den Zusammenhalt zu stärken. Aufgrund der flachen Hierarchien ist die Einsatzbereitschaft groß und jede*r Mitarbeiter*in möchte sich aktiv einbringen.

Vera: Gibt es noch andere Gründe für diese Einsatzbereitschaft?

Jörg: Die hohe Transparenz, die uns die Holakratie im Hinblick auf diverse Dimensionen vorgibt. Wir legen unsere Zahlen intern sehr detailliert offen – die Mitarbeiter*innen wissen, wo Qualitypool wirtschaftlich steht und was das für ihren Arbeitsbereich bedeutet. Zum anderen weiß jede*r aufgrund der klar definierten Rollen, wer welche Aufgabe hat. 

Außerdem haben wir unsere Strategie und unsere nicht-monetären Ziele für dieses Jahr mit den Mitarbeitern*innen abgestimmt. Wir brechen sie herunter auf die einzelnen Kreise, so dass jede*r einschätzen kann, was wir dieses Jahr und in den kommenden Jahren erreichen wollen. Wir vermeiden so ein demotivierendes “vor sich hin arbeiten” und fördern die Eigenverantwortung, um Themen aktiv zu gestalten.

Vera: Du hast es schon fallen lassen: Ihr lebt eine holakratische Organisationsstruktur. Wie seid ihr genau organisiert?

Jörg: Vereinfacht ausgedrückt wird in der Holakratie kreisförmig von außen nach innen organisiert. Auf der äußersten Ebene gibt es den Ankerkreis. Dort agieren wir sehr spärlich, da dort nur ganz spezifische Themen der Geschäftsführung und gesetzliche Notwendigkeiten angesiedelt sind. Das wirkliche “Doing” findet im General Company Circle statt (ist innerhalb des Ankerkreises). Alle geschäftlichen Aktivitäten sind dort organisiert. Zusätzlich gibt es den Kreis Organisation-Mensch-Gemeinschaft, in dem alle Themen rund um den Menschen und die Organisationsentwicklung verortet sind. Der menschliche Anteil spielt eine gleichwertige Rolle. Wenn mir jemand “schwer auf die Füße tritt”, dann bin ich nicht in meiner Rolle xyz angegriffen, sondern als Mensch Jörg.

Vera: Wie war der Prozess hin zu dieser Organisationsstruktur bis jetzt?

Jörg: Vor dreieinhalb Jahren haben wir in Lübeck (Anm. d. Red.: Hauptstandort) angefangen, uns mit dem Thema Eigenverantwortung intensiv auseinanderzusetzen, bevor wir uns überhaupt an die Holakratie herangetraut haben. Am Standort Bayreuth haben wir 2020 innerhalb von wenigen Monaten auf Remote-Arbeit und kurz danach auf Holakratie geschaltet. Das Unternehmen war bis dato sehr erfolgreich eigentümergeführt, alle relevanten Entscheidungen wurden in dieser klassischen Organisation von der Geschäftsführung getroffen. Es ist also ein intensiver Lernprozess, insbesondere, wenn die Organisation unterschiedlich weit in ihrer Entwicklung ist. Du darfst die einen nicht überfordern, und die anderen nicht total ausbremsen. Ganz aktuell sind wir in dem Prozess, die disziplinarische Führung von der fachlichen Führung, sprich der Lead Link-Rolle, zu trennen, sodass wir den Gedanken der Eigenverantwortung noch konsequenter weiterführen können.

Vera: Bekommt ihr dabei Unterstützung?

Caroline: Ja, wir bekommen einerseits Unterstützung von unserer Muttergesellschaft, die seit längerer Zeit mit geschulten Coaches arbeitet. Andererseits haben wir selbst Mitarbeiter*innen gefunden, die sich stärker in das Thema eingearbeitet haben und zu Holakratie-Experten geworden sind. Diese Personen haben gerade zu Beginn Schlüsselrollen übernommen, bspw. als Facilitator, eine Art Moderator*in, im Tactical Meeting. Zudem arbeiten wir mit einer offiziellen Holakratie-Verfassung, die uns aufgrund des relativ eng gesetzten Regelwerkes Orientierung gibt.

Vera: Inwiefern spielt “Führung” denn dann für euch in dieser Organisationsstruktur überhaupt noch eine Rolle? Was versteht ihr unter Führung?

Jörg: Wenn wir über Führung reden, meinen wir die Entwicklung von Menschen. Es ist immer sehr spannend, wenn ich mit Leuten außerhalb des Unternehmens spreche. Sie beantworten häufig die Frage “Was ist Führung?” damit, dass es um Einstellungen, Jahresgespräche und Entlassungen geht. Wir haben da einen anderen Blick darauf. Grundsätzlich bedeutet Führung für uns, Menschen die Rahmenbedingungen zu geben, sich sowohl fachlich in ihrer Karriere als auch persönlich zu entwickeln. Da gelangt man zu einem Führungsbegriff, der viel größer gefasst ist. Natürlich gibt es auch bei einer solchen Auslegung kritische Situationen, die bewältigt werden müssen. Aber das kannst du auf sehr verschiedene Arten bewerkstelligen. 

Vera: Ich verstehe euch so, dass es im Kern darum geht, wie man den Menschen sieht und welche Haltung man gegenüber Menschen hat.

Jörg: Ja, genau. Was glaube ich viel aussagt, ist unser  Prinzip “Wir führen gemeinsam”. Menschen möchten sich einbringen und nicht gesagt bekommen, was wie zu tun haben. Sie möchten selbst kreativ werden. Wir nehmen ganz klar Bezug auf das Modell von Douglas McGregor, der die XY-Theorie aufgestellt hat. Das ist der Startpunkt, mit dem davon ausgegangen wird, dass der Mensch Lust hat, Verantwortung zu übernehmen und das eigene Potenzial zu entfalten. Mit dieser Lust kommt die Kreativität, das eigene Potential, aber auch das Potential der Organisation auszuschöpfen. Und mit der Holakratie geht man noch einen Schritt weiter, indem sogar die unternehmerische Verantwortung in die Hände der Mitarbeiter gelegt wird. 

Vera: Blicken wir doch auf Corona. Du, Jörg, hast im Vorfeld des Gesprächs gesagt, dass ihr nicht von Krisenmanagement sprecht, sondern von “auf die Entwicklungen vorbereitet sein”. Warum nicht die Tatsache, dass wir uns in einer gesamtgesellschaftlichen und -wirtschaftlichen Krise befinden, beim Namen nennen. Was steckt dahinter?

Jörg: Zum einen, dass es uns wirtschaftlich weiterhin gut geht und wir Corona auf der wirtschaftlichen Seite bisher nicht spüren. Zum anderen hört sich “Krise” für mich immer ein bisschen so an, als ob man vom neuen Führungsbegriff wieder ins Autoritäre kippt. Nach dem Motto: Wir sind im Krisenmodus. Und jetzt machst du dies und du machst jenes. Diesen Zustand wollten wir auf keinen Fall erreichen. Es zeichnete sich schnell ab, dass die Menschen in gewissen Aspekten mehr Führung brauchen als gewöhnlich, sprich mehr Kommunikation und Austausch. Auf diese Situation haben wir auch reagiert. Aber ganz ehrlich, in solchen Momenten ist es relativ “einfach”, zu führen, aufgrund der Verunsicherung durch die extreme äußere Situation. Für mich bedeutet es in diesem Fall zu organisieren, dass wir vorbereitet sind auf verschiedene Szenarien und damit transparent umgehen.

Vera: Wie seid konkret vorgegangen? Was gab es für Maßnahmen?

Jörg: Wir haben am Anfang vor allem versucht, gewisse Strukturen zu etablieren, bspw. mit Videokonferenzen, die zweimal wöchentlich stattfanden. Dort sprachen wir gemeinsam über die aktuellen Entwicklungen und die Auswirkungen auf das Business und die Zusammenarbeit. Nach wie vor wählen sich zu diesen Calls über 90% der Mitarbeiter*innen ein – der Bedarf an Information und Austausch war und ist also da. Dann ging es im nächsten Schritt darum, ob alle arbeitsfähig sind. Ganz pragmatisch haben wir gesagt: “Holt euch aus dem Büro alles, was ihr an Infrastruktur braucht, so dass ihr zu Hause gut arbeiten könnt”. Dann kamen Themen auf, wie kann man sich zu Hause überhaupt organisieren und gut arbeiten. Wir haben schnell festgestellt, dass die Leute tendenziell eher mehr und länger arbeiten als im Büro. Also haben wir ganz klar kommuniziert: “Leute, gewöhnt euch Rituale an und macht Pausen”. Auch für Meetings haben wir Verhaltens- und Ablaufempfehlungen kommuniziert. 

Vera: Ansonsten ist die Zusammenarbeit und das Geschäft bei euch ganz normal weiter gelaufen?

Jörg: Ja, die Kreismeetings sind alle ganz normal weitergelaufen, z. T. einfach in einem anderen Format. Dadurch, dass die Meetings in der Holakratie ohnehin sehr stark softwareunterstützt sind und nach einem vorgegebenen Prozedere ablaufen, war das für die meisten Kollegen*Innen jedoch keine große Umstellung.

Caroline: Was wir zusätzlich eingeführt haben, sind sogenannte Social Breaks. Dort können sich die Kollegen*innen online “treffen”, um auch mal Nicht-Berufliches in der Gruppe zu besprechen. Wir versuchen damit aktiv dazu anzuregen, weiterhin in der Gemeinschaft zu bleiben, trotz all der äußeren Veränderungen. Generell haben die meisten Kreismeetings schon vor Corona standortübergreifend stattgefunden. Die Zusammenarbeit über geografische Grenzen hinweg war insofern nicht vollkommen neu für die meisten Kollegen*innen.

Vera: War Kurzarbeit auch ein Thema?

Jörg: Ja, darüber haben wir ganz offen gesprochen. Den Mitarbeiter*innen erklärt, was das überhaupt ist, wie das mit dem Kurzarbeitergeld funktioniert und in kleineren Sessions ganz konkret aufgezeigt, was das finanziell für jede*n Einzelne*n bedeuten würde. Um überhaupt auch die Angst zu nehmen, die von außen stark getriggert wurde dadurch, dass immer mehr Menschen im Umfeld in Kurzarbeit gingen. Für uns war klar, dass wir Kurzarbeit nur dann einführen, wenn es wirtschaftlich wirklich notwendig ist. Wir wollten durch die Transparenz in unseren Zahlen erreichen, dass die Mitarbeiter*innen selbst sehen können, wann Kurzarbeit notwendig werden könnte. Es wäre keinesfalls so, dass etwas überraschend verkündet wird. Die Mitarbeiter*innen können direkt nachvollziehen, wie es dazu gekommen ist.

Caroline: An all diesen Vorgängen kann man deutlich erkennen, dass wir das Wort “Krise” nicht vermeiden, um etwas “unter den Tisch zu kehren”. Sondern eher im Sinne dessen, dass wir uns natürlich bewusst sind, dass wir uns in einer herausfordernden Zeit bewegen, die Mitarbeiter*innen aber aufgrund der Transparenz der Daten und Abläufe sehen können, was passiert und in ihren Rollen aktiv darauf reagieren können. Wir möchten den proaktiven Charakter der Maßnahmen betonen. 

Vera: Welche Reaktionen habt ihr auf die Maßnahmen erhalten? Was gab es vielleicht auch für Konflikte?

Jörg: Die Rückmeldungen waren sehr schön und motivierend – das habe ich in dieser Hülle und Fülle noch nicht erlebt – da steckt also tatsächlich etwas Gutes in der “Krise”. Wir haben nach ein paar Monaten eine Umfrage zur Stimmung unter den Mitarbeitern*innen gemacht u.a. mit einem Freitextfeld. Dort hat der Großteil der Mitarbeiter*innen tatsächlich etwas weitergegeben – von “boah, ich vermisse die Kollegen” oder “können wir das mit dem Home Office so beibehalten” bis hin zu “musste der jetzt etwas von Kurzarbeit erzählen, jetzt habe ich richtig Angst”. Das war ein wichtiges Learning für uns. Transparenz kann auch Unbehagen auslösen, wir müssen also sensibel damit umgehen. Insgesamt waren jedoch relativ wenig kritische Kommentare enthalten. 

Caroline:  Wir haben auch in den diversen Meetings von den Mitarbeitern*innen zurückgespielt bekommen, was gut läuft und was schwer fällt, wie z. B. die Kinderbetreuung. Leider waren das nicht immer Themen, an denen Qualitypool unmittelbar etwas ändern konnte. Das Feedback war aber sehr wertvoll, um weiterzudenken, an welchen Stellen wir als Organisation noch unterstützen können. Wir haben daraufhin z. B. die 50:50 Regelung eingeführt, d.h. für jeden Tag, den Mitarbeiter*Innen frei nehmen, “schenkt” Hypoport einen weiteren freien Tag, um so bspw. Betreuungssituationen zu Hause zu entzerren. Manche hatten zu Hause Lagerkoller. Auch das kam bei uns an. Ich habe glücklicherweise kein Feedback bekommen, dass die getroffenen Maßnahmen überhaupt nicht zu uns passen.

Jörg: Die kritischen Themen, von denen wir außerdem gehört haben, waren vorher schon vorhanden. Wenn jemand Holakratie grundsätzlich nicht als das für ihn oder sie beste Organisationsformat ansieht, dann ist das unabhängig von Corona. Durch all die Maßnahmen während Corona blendest du das ja nicht aus. Im Gegenteil, da wirkt die Situation eher wie eine Art Brennglas.

Vera: Was möchtet ihr gerne anderen Organisationen aus den Erfahrungen der letzten Monate mitgeben?

Caroline: Extrem wichtig war der offene Umgang mit der jeweiligen Situation, ohne Ängste zu schüren. Dazu möchten wir andere Organisationen ermutigen, dass sie ihren Mitarbeitern*innen einen entsprechenden Umgang damit den Informationen zutrauen. Aus diesem Weg kann auch ein stärkeres Gemeinschaftsgefühl entstehen.

Jörg: Ja genau das. Die Organisationen sollten wirklich Vertrauen in die Mitarbeiter*innen haben. Nicht einfach denken, dass man die Situation von Führungsseite aus kontrollieren muss und kann. Corona hat uns deutlich gezeigt: Die Mitarbeiter*innen liegen nicht den ganzen Tag in der Hängematte. Wir als Organisationen und Unternehmer*innen sollten noch viel mehr dazu bereit sein, Verantwortung abzugeben und darauf zu vertrauen, dass daraus mehr Engagement seitens der Mitarbeiter*innen entsteht. Das wiederum bringt die Organisation als Ganzes voran.

Vera: Ich danke Euch beiden sehr für das inspirierende Gespräch!


Zum Nachdenken & Nachmachen

  • Selbstreflexion: Was für einen Umgang im Arbeitskontext wünscht du dir persönlich für dich? Von dort ist es meist nicht mehr ein so weiter Weg zu den Bedürfnissen der anderen Organisationsmitglieder. 
  • Reflexion des organisationalen Menschenbildes: Was für ein Menschenbild steckt hinter der Führungsphilosophie in deiner Organisation? Wie seht ihr den arbeitenden Menschen?
  • Traue den Mitarbeiter*Innen etwas zu: Mit konsequenter Begleitung können Mitarbeiter*Innen meist sehr gut mit transparenten Informationen umgehen, selbst, wenn die einmal nicht rosig sind. Letztlich fühlen sie sich so ernst genommen und können sich auf verschiedene Szenarien vorausschauend einrichten.
  • Trust the small-steps-process: Eigenverantwortliches Arbeiten entwickelt sich nicht von heute auf morgen. Alle Organisationsmitglieder brauchen Zeit sich individuell zu entwickeln und ihren Umgang mit neuen Arbeitsformen zu finden. Hierfür bieten sich kleine Projekte an, in denen alle Beteiligten lernen können, Verantwortung zu übernehmen bzw. abzugeben.
  • Lasse Licht von außen rein: Ein Coach oder auch eine Beratungsfirma können helfen die eigenen blinden Flecken als Führungskraft, aber auch als Organisation insgesamt, zu beleuchten. Darüber hinaus können sie den Lernprozess mit Anregungen von außen und einer strukturgebenden leitenden Hand unterstützen.

Autorin: Vera Mani-Daub

Vera ist Querdenkerin für Zusammenarbeit und die Zukunft der Arbeit – mit Hang zum kritischen Hinterfragen und utopischem Realismus. Als HR Gestalterin und A-&O-Psychologin weiß sie, welche Kraft in Menschen steckt, die Organisationen selbstbestimmt und mental gesund gestalten können. Darüber, ihren feministischen Blick auf Elternschaft und ihre eigene mentale Gesundheit reflektiert sie auf ihrem Instagram-Account @wasdenktvera.

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