Magazinausgabe #2, Struktur & Kultur
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Über die Notwendigkeit, den Begriff Arbeitszeit neu zu denken

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Unser tradiertes Verständnis von Arbeitszeit hat ausgedient – diese These lässt mit vielen Praxisbeispiele untermauern. Ich möchte es noch konkretisieren: Die tradierte Trennung von Arbeit und Leben gehört auf den Prüfstand, weil sie die Lebenswirklichkeit nicht mehr widerspiegelt. Dies ist der Aufruf zu einem ausführlichen Diskurs.

Arbeitszeit. Arbeit. Zeit. In der Regel versteht man darunter: Die Erledigung einer festgelegten Arbeitsleistung innerhalb einer vereinbarten Zeit. Basis ist häufig ein Stundenlohn, das gezahlte Gehalt ergibt sich also aus der Multiplikation der geleisteten Stunden mit dem vereinbarten Stundenlohn.

Das dieses Modell so seine Schwächen hat, wurde mir während des Studiums erstmals deutlich: Dort arbeitete ich als Hilfskraft in der Produktion, gearbeitet wurde im 3-Schicht-Modell. Und was passierte regelmäßig 20 Minuten vor Ende der Frühschicht: An der Stempeluhr baute sich sukzessive eine lange Schlange auf. Ab 14 Uhr konnte ausgestempelt werden – und ab Punkt 14 Uhr wurde ausgestempelt. In einem Tempo, dass während der Schicht eher selten zu beobachten war. Wo lag der Fokus? Auf der Zeit. Eher nicht: auf der Arbeit.

Ein anderes Beispiel: Eine Freundin arbeitet in „Teilzeit“. Was in der Praxis bedeutet: Sie hat einen Arbeitsvertrag mit einer Regelarbeitszeit von 34 Wochenstunden. Dies ist das Maximum dessen, was sie schafft, als alleinerziehende Mutter von  zwei Kindern, die zu 50% bei ihr und zu 50% beim Vater sind. Warum Maximum? Weil sie auf jeden Euro angewiesen ist. 

Ξ 20 Stunden reichen nicht! Über ideale Arbeitsmodelle für Alleinerziehende hat Luisa Hanke ausführlich geschrieben

Die Woche sieht dann konkret so aus, dass sie an zwei Nachmittagen in der Woche die Kinder betreut, zusätzlich an jedem zweiten Freitag. Die 34 Stunden verteilen sich also faktisch auf 3,75 Arbeitstage, ein voller Arbeitstag hat dementsprechend neun Stunden. Hm. Und hinzu kommt natürlich die Betreuungszeit der Kinder: Hausaufgabenbetreuung, beim Üben von Gitarre und Geige unterstützen, zu Verabredungen und Stunden bei den Musiklehrern begleiten. Hinzu kommt weiterhin die Arbeit im Haushalt. Und die ehrenamtliche Tätigkeit als Kassenprüferin in der Grundschule. Jetzt mal ehrlich: sie arbeitet in „Teilzeit“? Ein schlechter Witz. Und auch hier: Der Fokus im Leben meiner Freundin liegt meist auf dem Zeitmanagement, in dem es darum geht, irgendwie alles unter einen Hut zu bekommen. Und das, obwohl sie einen sehr hohen Anspruch an die Qualität ihrer Arbeitsleistung hat. 

Ξ “Achtung, Falle!”: Um die Schattenseiten von Teilzeit und die einhergehende Last der Care-Arbeit geht es auch in Sandras Artikel.

Jetzt könnte man eine Debatte über Zeit führen. Wie man sie besser managen, nutzen, abgrenzen könnte. Doch die Abgrenzung von Arbeit und Leben fällt zunehmend schwerer, „Selbstundständige“ können ein Lied davon singen, vielleicht also gut, wenn eine Stempeluhr das regelt. Aber selbst dann: Homeoffice, mobiles Arbeiten, ständige Erreichbarkeit über das Handy, E-Mails vom Chef auch am Wochenende – natürlich versuchen viele Arbeitgeber*innen, mehr Zeit von ihren Angestellten zu bekommen – und verpacken dies gerne in Euphemismen wie “Engagement” und “Zielorientierung”. Zwischen Arbeitgeber*innen und Gewerkschaften läuft diese Debatte seit Jahrzehnten.

Und man könnte eine Debatte über den Arbeitsbegriff führen. Was lässt sich unter diesem Begriff fassen? In der Regel verstehen wir die Tätigkeit in einem abhängigen Beschäftigtenverhältnis. Denn nur hier ist Arbeit klar definiert: Arbeitsvertrag, Stellenbeschreibung, Projektplan. Und auch nur hier ist Zeit klar definiert: Kernarbeitszeit, Wochenarbeitszeit, Überstundenregelungen. Aber Arbeit ist noch viel mehr: Kinder erziehen, Haushalt managen, Eltern pflegen, und vieles mehr. Und auch über die Würdigung dieser Arbeitsleistungen wird längst debattiert, z.B. im Kontext eines bedingungslosen Grundeinkommens.

Hinter all diesen Debatten und Debattierenden kann man sich prima verstecken: Läuft ja – und wenn es Ergebnisse gibt, schauen wir, was diese uns nützen. Aber mal ehrlich: Ist diese künstliche Trennung von Arbeit und Leben nicht ein Relikt der Industrialisierung und im 21. Jahrhundert nicht völlig antiquiert? Und bringt es uns nicht viel weiter, einen neuen Blick zu wagen und die Vereinbarkeit als gemeinsames Ziel von Arbeitgeber*innen und -nehmer*innen, Vollzeitmanager*innen in Beruf und Familie (um auch ein häufig als „klassisch“ bezeichnetes Rollenverständnis mal auf eine andere Diskursebene zu hieven) zu begreifen?

Schluss mit dem Versteckspiel!

Was wäre dann zu tun? Viel. Vor allem: Sich nicht im Allgemeinen, Pauschalen und „man müsste-könnte-sollte“ verstecken. Sondern: Ganz konkret darüber sprechen, welche Anforderungen die Lebenswirklichkeit jedes einzelnen an das Leben stellen. Und dann gemeinsam aushandeln, welche Konsequenzen dies für die Beziehung zwischen Arbeitgeber*innen und -nehmer*innen sowie den Vollzeitmanager*innen in Beruf und Familie hat – und welche Veränderungen diese nach sich ziehen. Das kostet nicht nur Zeit, sondern vor allem Interesse, am Gegenüber mit seinen Ansichten und Standpunkten, Interesse diese zu verstehen, und das ist: wirklich Arbeit. 

Ein Diskurs über die Begrifflichkeit der Arbeitszeit ist also Arbeit und kostet Zeit. Ich finde: beides ist gut investiert. Und würde mich sehr freuen, diesen Diskurs hier zu starten. Machen wir uns an die Arbeit und nehmen uns die Zeit!

Kategorie: Magazinausgabe #2, Struktur & Kultur

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Marc war Werber bei Jung von Matt, bis seine Töchter das Licht der Welt erblickten und er der Familie den Vorzug vor einer 70-Stunden-Woche gab. Heute ist er Geschäftsführer von www.futurzwei.de. Seine Kunden schätzen den diskursiven Beratungsstil und den scharfen Blick für pragmatische Problemlösungen in Strategie- und Organisationsprozessen sowie Stadtentwicklungsprozesses. Bei nine to life vertritt er die Perspektive von Führungskräften, die sich permanent neuen Anforderungen an Führung, Zusammenarbeit und Organisation stellen müssen. LinkedIn | Instagram |

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